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Das fünfte Kind. Roman

Das fünfte Kind. Roman

Titel: Das fünfte Kind. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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allein. Sie versuchte, sich mit ihm ebenso zu beschäftigen wie früher mit den anderen. Sie saß bei ihm auf dem Fußboden, zusammen mit Bauklötzen und anderem Spielzeug. Sie zeigte ihm bunte Bilderbücher. Sie sang ihm Kinderlieder vor. Aber Ben war für nichts zu gewinnen. Er saß inmitten all der hübschen Sachen und stellte vielleicht einmal einen Klotz auf den anderen, wobei er Harriet anblickte, um zu sehen, ob sie nur das von ihm wollte. Er starrte die bunten Bilder an und versuchte, wie es schien, ihren Sinn zu entziffern. Auf den Schoß nehmen ließ er sich nie, aber er hockte neben Harriet, und wenn sie erklärte: »Sieh mal, Ben, das ist ein Vogel, ganz wie der da draußen auf dem Baum. Und das ist eine Blume …«, sah er einen Moment starr hin und wandte sich dann ab. Offenbar begriff er ganz gut, dass ein Klötzchen aufs andere passte oder dass man einen Turm damit bauen konnte, aber er schien keinen Sinn in alledem zu sehen. Was sollte das mit dem Vogel oder der Blume? Vielleicht war er ganz einfach schon zu weit für diese Art Kinderspiele? Manchmal hatte Harriet fast den Eindruck. Er reagierte zum Beispiel auf die Bilder, indem er in den Garten ging und eine Amsel belauerte, die auf dem Rasen herumhüpfte. Rasch und geduckt schlich er sich an, und um ein Haar hätte er den Vogel erwischt. Er riss ein paar Primeln von ihren Stängeln, starrte sie eine Weile intensiv an, zermatschte sie dann in seinen starken kleinen Fäusten und ließ sie fallen. Dann drehte er sich um und sah, dass Harriet ihn beobachtete. Er schien zu denken, dass sie etwas von ihm wollte. Aber was? Wieder starrte er auf die Frühlingsblumen, dann auf die Amsel, die jetzt zeternd auf einem Ast saß, und kam langsam ins Haus zurück.
    Eines Tages sprach er. Ganz plötzlich. Er sagte weder Mama noch Papa noch seinen eigenen Namen. Er sagte: »Ich will Kuchen.« Harriet merkte im ersten Moment gar nicht, dass er sprach. Aber dann verkündete sie überall: »Ben kann sprechen! Gleich ganze Sätze!« Die anderen Kinder, gutartig, wie sie waren, ermutigten ihn: »Das war sehr gut, Ben!« – »Kluger Ben!« Aber er nahm keine Notiz von ihnen. Von nun an sprach er seine Forderungen aus. »Ich will das.« – »Gib mir das.« – »Will spazieren gehen.« Seine Stimme war gaumig und ungefestigt, jedes Wort kam einzeln, als wäre sein Hirn eine Rumpelkammer von Ideen und Gegenständen und er müsste alles und jedes erst prüfen und identifizieren.
    Seine Geschwister waren erleichtert, dass er so normal sprach. »Hallo, Ben!«, rief eines, und »Hallo!«, antwortete Ben. Er gab sorgfältig wieder, was er hörte. »Wie geht’s dir, Ben?«, fragte Helen.
    »Wie geht’s dir?«, antwortete er.
    »Nein«, sagte Helen, »jetzt musst du antworten: ›Danke, gut‹ oder ›Mir geht’s prima‹.«
    Ben starrte sie an, und es arbeitete in ihm. Dann wiederholte er unbeholfen, aber korrekt: »Mir geht’s prima.«
    Unablässig beobachtete er seine Geschwister, besonders Luke und Helen. Er studierte, wie sie sich setzten, wieder aufstanden, er machte ihnen nach, wie sie aßen. Er hatte verstanden, dass diese beiden, die Älteren, sich schon besser zu bewegen und zu verhalten wussten als Jane. Um den kleinen Paul kümmerte er sich überhaupt nicht. Wenn die Kinder vor dem Fernseher saßen, hockte er sich in ihre Nähe und blickte zwischen dem Bildschirm und ihren Gesichtern hin und her, um zu erfahren, welche Reaktion jeweils angebracht war. Wenn sie lachten, steuerte auch er, mit einem Moment Verspätung, sein lautes, hartes, unnatürlich klingendes Gelächter bei. Von Natur aus schien er nur über sein zähnefletschendes Grinsen zu verfügen, wenn er sich amüsierte, und das wirkte eher feindselig. Wurden die anderen bei aufregenden Szenen vor Aufmerksamkeit still und steif, so spannte auch Ben seine Muskeln an und schien von der Mattscheibe völlig gefesselt. In Wirklichkeit aber hingen seine Augen nur an seinen Geschwistern.
    Im Großen und Ganzen war es jetzt leichter mit ihm. Harriet dachte: »Nun ja, jedes normale Kind ist im ersten Jahr, nach dem Laufenlernen, am schwierigsten. Noch kein Sinn für Gefahren und Selbsterhaltung: Sie werfen sich aus ihrem Bett und von Stühlen herunter, springen ins Nichts, rennen in den dichtesten Straßenverkehr, müssen jede Sekunde bewacht werden … Aber meistens«, fügte sie hinzu, »sind sie gerade dann am reizendsten, oft einfach herzzerbrechend süß und drollig. Und dann werden sie allmählich

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