Das fünfte Paar
Stille.
»Abby? O mein Gott!«
»Pat! Tun Sie's nicht, Pat!« Abbys Stimme zitterte vor Angst. Sie schnappte nach Luft, als etwas auf dem Sofa aufschlug.
»Lassen Sie mich los! Hauen Sie ab!« Keuchen, Gerangel. Ein Schuß. Und noch einer. Und wieder. Stille.
Schritte kamen näher und verstummten. »Abby?«
Pause.
»Abby? Bitte sterben Sie nicht... Abby...« Pat Harveys Stimme erstarb in einem Stammeln.
Marino streckte die Hand aus, schaltete den Recorder ab und steckte ihn wieder in den Plastikbeutel.
Ich starrte in namenlosem Entsetzen vor mich hin.
Am Samstag morgen war Abbys Beerdigung. Nach der Zeremonie am Grab wartete ich, bis die Trauergemeinde sich zerstreut hatte, und ging dann im Schatten von Magnolien und Eichen einen Fußweg entlang. Hartriegelsträucher blühten strahlendweiß und leuchtendrot in der sanften Frühlingssonne.
Es waren nicht viele zu dem Begräbnis erschienen. Ich begrüßte einige ihrer früheren Richmonder Kollegen und versuchte Abbys Eltern zu trösten. Marino war da. Und Mark, der mich fest an sich drückte und mit dem Versprechen ging, später bei mir vorbeizu kommen. Und Benton Wesley. Ich mußte mit ihm sprechen - aber zuerst wollte ich noch eine Weile allein sein.
Der Hollywood Cemetery war Richmonds prächtigste Totenstadt - etwa vierzig Morgen leicht hügeliges, baumbestandenes und von Bächen durchzogenes Gelände nördlich des James River. Die gewundenen Straßen waren geteert, beschriftet und mit Geschwindigkeitsbeschränkungen versehen. Viele der Grabsteine, trauernden Engel und Granitobeliske auf den Rasenflächen waren über hundert Jahre alt. Hier ruhten die Präsidenten James Monroe und John Tyler, Jefferson Davis und der Tabakmagnat Lewis Ginter. Ein Teil war für die Gefallenen von Gettysburg reserviert und eine flache Mulde für Familiengräber - dort lag jetzt Abby neben ihrer Schwester Henna.
Ich hatte das Ende des Weges erreicht. Unter mir schimmerte der Fluß, schlammig von den Regenfällen der letzten Tage, wie mattes Kupfer. Es wollte mir nicht in den Kopf, daß Abby jetzt zu den Bewohnern dieses Ortes zählte, ein Gedenkstein aus Granit der Vergänglichkeit alles Irdischen zu trotzen suchen würde. Ob sie wohl irgendwann in ihrem ehemaligen Haus gewesen und in Hennas früheres Zimmer hinaufgegangen war, wie sie es hatte tun wollen, sobald sie den Mut dazu fände?
Ich hörte Schritte hinter mir und drehte mich um: Wesley kam langsam auf mich zu.
»Sie wollten mich sprechen, Kay?«
Ich nickte.
Er streifte sein dunkles Jackett ab, lockerte die Krawatte und öffnete seinen Hemdkragen.
»Es gibt neue Erkenntnisse«, begann ich. »Ich habe am Donnerstag Gordon Spurrier angerufen.«
Wesley sah mich neugierig an. »Den Bruder?«
»Steven Spurriers Bruder, ja. Ich wollte es Ihnen erst sagen, wenn ich einige Dinge überprüft hätte.«
»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen«, sagte Benton. »Aber er steht auf meiner Liste. Das mit den DNS-Resultaten ist ein Jammer.«
»Darauf will ich hinaus: Die können wir vergessen!«
»Was?«
»Bei Spurriers Autopsie entdeckte ich eine Menge alter chirurgischer Narben. Eine davon stammte von einem winzigen Schnitt über der Mitte des Schlüsselbeins. Es scheint, als habe man eine Hickman-Line legen müssen.«
»Und was heißt das?«
»Man legt nur eine subclaviculare Infusion, wenn die Flüssigkeiten dem Körper sehr schnell zugeführt werden müssen - bei Bluttransfusionen zum Beispiel. Mit anderen Worten: Spurrier mußte irgendwann ein ernsthaftes gesundheitliches Problem gehabt haben, und ich kam auf den Gedanken, daß es vielleicht mit den fünf Monaten zusammenhängen könnte, für die er kurz nach Jills und Elizabeths Ermordung seine Buchhandlung ausperrte. Es gab auch noch andere Narben - über der Hüfte und seitlich am Gesäß. Winzige Schnitte, die mich zu der Vermutung veranlaßten, daß man ihm Knochenmarkproben entnommen hatte. Also rief ich seinen Bruder an, um etwas über Stevens Krankheitsgeschichte zu erfahren.«
»Und was haben Sie erfahren?«
»Etwa um die Zeit, als er seine Buchhandlung schloß, wurde er in der UVA auf Aplastische Anämie behandelt«, sagte ich. »Ich habe mit seinem Hämatologen gesprochen. Steven erhielt Bestrahlungen und Chemotherapie. Gordons Knochenmark wurde ihm übertragen, und Steven verbrachte einige Zeit in einem Laminar Flow Room - einer "Seifenblase", wie er im Volksmund heißt. Auch Steven Spurriers Haus erinnerte an eine Seifenblase. Sehr
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