Das fünfte Verfahren
Burma! Trinken Sie noch
ein Gläschen und hören Sie auf zu schimpfen! Und sollte Ihr Nachbar tatsächlich
seine Krise bekommen, dann klopfen Sie bloß nicht gegen die Wand. Das regt ihn
nur noch mehr auf. Am besten ist es, Sie warten, bis es vorbei ist.“
Ich nahm den Rat meines Gastgebers an
(den, noch ein Gläschen zu trinken), konnte mich aber mit dem zweiten Rat nicht
anfreunden.
„Das kann ja heiter werden“, brummte
ich dann und stand auf. „Na schön, gute Nacht...“
Ich ging auf mein Zimmer. Die
Zentralheizung funktionierte. Es war angenehm warm. Ich legte mich zwischen die
Laken und löschte das Licht.
Entgegen meiner Befürchtungen störte
mein verrückter Nachbar mich keine Sekunde. Deswegen schlief ich aber auch
nicht besser. Ich lag kaum zehn Minuten im Bett und war kurz davor
einzuschlafen, als das Brummen von Motoren mich aufhorchen ließ. Ich dachte an
einen Angriff der Engländer, die in den kommenden Minuten die Landschaft
entscheidend neu verändern würden. Mein ebenfalls neues Gesicht hatte gute
Chancen, zum zweiten Mal verändert zu werden. Vorausgesetzt, der liebe Gott war
mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.
Doch das Motorengebrumm wurde
schwächer, ohne daß irgend etwas passierte. Die Maschinen flogen tief und
verursachten ein schreckliches Getöse. Zu tief und zu laut für Engländer.
Einerseits war das beruhigend, aber andererseits... Wirklich, ein
Scheiß-Wiegenlied!
Ein paar Sekunden Stille, dann ging
auf der Nationalstraße ein Höllenspektakel los. So was Ähnliches wie ein
Erdbeben rollte auf die Klinik zu und ließ ihre Grundmauern erzittern. Die
Fensterscheiben vibrierten.
Ich stand auf. Ohne Licht zu machen,
schob ich den Vorhang zur Seite und öffnete lautlos das Fenster. Die Nacht war
klar. Durch die Gitterstäbe hindurch erblickte ich die Straße hinter den kahlen
Bäumen.
Dicke, schwere Wagen rollten wie ein
Geisterzug durch die Landschaft. Ihre abgeblendeten und verhangenen
Scheinwerfer beleuchteten kaum die Fahrbahn. Lastwagen folgten. Und dann Panzer
und Geschütze.
Ich dachte daran, daß Marc Covet
seinen nagelneuen Ausweis einweihen könnte. Es war soweit.
Die Wehrmacht überschritt die
Demarkationslinie.
* * *
„Auf so eine Operation mußte man
gefaßt sein“, sagte Frédéric Delan am nächsten Morgen zu mir, als ich ihn in
seinem Arbeitszimmer aufsuchte.
Ich warf einen Blick in den Park. Zwei
Personen spazierten dort in der bleichen Sonne umher.
„Ich persönlich“, sagte ich und
trommelte mit den Fingern gegen die Scheibe, „finde das höchst unerfreulich.
Das wird meine Reise nicht beschleunigen, was?“
„Bestimmt nicht“, antwortete der
Doktor.
Er kam zu mir ans Fenster und sah
ebenfalls in den Park hinunter.
„Sieh an“, rief er aus, „Fernèse macht
seinen täglichen Spaziergang mit dem Krankenpfleger Pierre.“
Ich beobachtete Victor Fernèse und den
Gorilla. Ehrlich gesagt, mir war der Kranke scheißegal. Besorgt war ich wegen
des Einmarschs, der mich hier wer weiß wie lange festhalten würde. Trotzdem sah
ich mir meinen Zimmernachbarn an.
Er war ein schmächtiger Mann von
vierzig oder fünfzig Jahren mit grauen Haaren, die unter seinem dunklen
Käppchen hervorquollen. Physisch machte er einen gesunden Eindruck. Ich sah ihn
zum ersten Mal.
Ich ließ den Psychiater mit seiner
Arbeit alleine und ging wieder auf mein Zimmer, wo ich den Tag mit Rauchen und
Lesen totschlug. Tabak hatte ich genug bei mir, und den Lesestoff besorgte mir
Gorilla-Pierre. Sein richtiger Name war Pradel. Der ehemalige Boxer gewann,
wenn man ihn näher kennenlernte. Zum Vorkriegspreis eines Fahrrades hatte er
mir ein Buch besorgt, eine „Prise Kultur“, die gut zu meiner Pfeifenqualmerei
paßte.
So vergingen drei Tage ohne besondere
Vorkommnisse.
* * *
Am vierten Tag, beim gemeinsamen
Abendessen, hatte Frédéric Delan Neuigkeiten für mich.
„Ich glaube, Sie werden mich bald
verlassen. Man kann nie sicher sein, wirklich nicht, aber nun ja... Folgendes:
Gerade war ein Führer bei mir. Wie erwartet, mahnt er zu größter Vorsicht. Es
ist nicht der richtige Moment, um die Linie zu überqueren. Es wimmelt von
Feldgrauen. Aber hier...“ Er hatte eine Michelin-Karte zur Hand genommen und
zeigte auf Saint-Alter, einen Ort weit weg von Ferdières. „Hier gibt es eine
Möglichkeit. Wenn alles nach Wunsch verläuft, werden Sie morgen vor
Sonnenaufgang abgeholt, Sie und die anderen drei... Sie werden den Tag auf
einem Bauernhof in der
Weitere Kostenlose Bücher