Das fünfte Verfahren
Nähe von Saint-Alter verbringen und nach Einbruch der
Nacht über die Linie gebracht.“
„Wunderbar.“
Wir redeten eine Weile über Adolf
Hitler. Auch nicht grade originell. Rund zweihundert Millionen anderer Menschen
auf der ganzen Welt taten wohl in dieser Minute genau dasselbe. Dann
verabschiedete sich Delan von mir, um mit meinen drei Leidensgenossen eine
Partie Bridge zu spielen. Ich ging schlafen.
Es war noch früh. Das Haus hallte von
tausend inzwischen vertrauten Geräuschen wider, was sehr beruhigend wirkte.
Pierre Pradel, der Gorilla, besuchte Victor Fernèse, um mit ihm ein wenig zu
plaudern. Ich fragte mich, ob das eine gute Therapie war. Der Boxer hatte ein
alles andere als beruhigendes Gesicht. Eher war es in der Lage, vorzeitig eine
Geburt einzuleiten. Nach dem Schwätzchen kam er zu mir und wünschte mir eine
gute Nacht. Später hörte ich noch den leichten Schritt der netten
Krankenschwester, das Zuschlägen von Türen und dann nur noch die Stille. Der
scharfe Novemberwind heulte wild ums Haus.
* * *
Ich hatte es geahnt! Nach Einbruch der
Nacht hätte der Gorilla sich lieber nicht einem armen Kerl, der den Verstand
verloren hatte, zeigen sollen. Sein Gesicht hätte die Räder eines Leichenwagens
blockieren können. Und tatsächlich, ich war noch nicht eingeschlafen, drangen
Schreie an mein Ohr. Sie kamen aus dem Nachbarzimmer. Victor Fernèse hatte
seine Krise. Ausgerechnet die letzte Nacht — jedenfalls hoffte ich, daß es die
letzte sein würde — suchte er sich aus, um auszuklinken! Und Fernèse brüllte
los. Zuerst verstand ich nicht so recht, was er schrie. Dann hörte ich den
weiblichen Vornamen, den der Arzt bereits erwähnt hatte:
„Laurence!... Laurence!...“
Er schien sie heftig zu begehren,
seine Laurence. Jedoch alles andere als sanft, großer Gott, nein! Er schien
ganz wild auf sie zu sein, und seine Stimme klang verängstigt. Das verdammte
Weib mußte ihm ordentlich zugesetzt haben. Zwischen fürchterlichem Geheule rief
er noch mehrmals ihren Namen:
„Laurence... Laurence...“
Plötzlich brach er in Gelächter aus.
Dann schrie er:
„Das fünfte Verfahren... fünfte
Verfahren…“
Noch ein grauenhaftes Lachen, und das
war’s.
Erleichtert atmete ich auf. Nein,
lustig war sie nicht gewesen, diese kleine Nachtmusik des Hauskaspers. Sie
hatte nicht lange gedauert, kaum ein paar Sekunden. Dennoch hätte man mit einem
Schlafmittel besser träumen können...
Der Anfall hatte die Stille des Hauses
nur vorübergehend gestört. Jetzt herrschte wieder Ruhe. In dieser Spezialklinik
schienen sich die Durchgangsinsassen sehr wenig umeinander zu kümmern. Die
„Sicherheit aller“, wie es auf dem Schild an der Tür hieß, erforderte
Diskretion. Und wenn ich es mir richtig überlegte: Was war natürlicher als die
Anwesenheit eines Irren in einer Irrenanstalt? „Psychiatrische Klinik“ stand
auf der Marmorplatte am Eingang. Kann man es einem Verrückten verübeln, wenn er
sich wie ein Verrückter benimmt?
Auf jeden Fall verschaffte der Fall
Fernèse Fred Delan ein ausgezeichnetes Alibi. Ich fragte mich, ob mein Freund,
der Psychiater, tatsächlich alles versucht hatte, um seinen Freund zu heilen...
Ich dachte über das Leiden des
Unglücklichen nach. Möglicherweise hatte der Krieg seine Sinne verwirrt. Ich
erinnerte mich, daß es mich im September 39 beinahe ebenfalls erwischt hätte.
In diesem speziellen Fall schien mir aber noch etwas anderes im Spiel zu sein.
Seine Rufe nach Laurence legten nahe, daß Eros dem guten Fernèse tüchtig eins
über den Schädel gegeben hatte. Und dieses fünfte Verfahren mußte ein ganz
teuflischer Trick aus dem Kamasutra sein. Wahrscheinlich hatte es Laurence
abgelehnt, dieses spezielle Spielchen mitzuspielen. Und das hatte den Kerl
glatt um den Verstand gebracht. Doch ich war weder Charcot noch Babinski noch
Freud noch irgendein anderer brillanter Seelenschnüffler. Sollte mein Nachbar
doch alleine mit seiner Laurence klarkommen! Mit ihr, dem fünften Verfahren und
seinem Freund Delan. Ich nahm mir vor, hübsch aufzupassen, daß es mit mir nicht
auch noch so weit käme. Bei meiner Manie, nach den Beinen meiner Zeitgenossinnen
zu schielen...
Ein Mann mittleren Alters bat mich um
Feuer. Ich brauchte eine Weile, um zu kapieren, daß ich eingeschlafen war und
träumte.
* * *
Der Kerl, der mich einige Stunden
später weckte, wollte von mir kein Feuer haben. Er hielt eines jener Feuerzeuge
in der Hand, die eher dazu dienen,
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