Das fünfte Verfahren
doch, ganz bestimmt! Sie schien auf hundert zu
sein. Ein richtiger Wutausbruch. Und sie hatte auch allen Grund dazu, wie ich
im zweiten Teil erfuhr. Hab mich köstlich amüsiert.“
Die Erinnerung daran ließ sie in sich
hineinkichern.
„Was verstehen Sie unter dem ersten
und dem zweiten Teil?“ hakte ich nach.
„Der erste Teil ihrer Schimpfkanonade
war mehr allgemein. Erst beim zweiten wurde es konkreter... Lassen Sie mich
erklären: Nach meinem Auftritt hätte ich direkt hierherkommen können, aber
hier... Na ja, um es vorsichtig auszudrücken: Schlafen kann man hier nicht.
Diejenigen, die nicht schnarchen, diskutieren über den historischen
Materialismus. Und wenn Sie meinen, das wär langweilig und einschläfernd, dann
täuschen Sie sich. Kurz und gut, an besagtem Abend war ich hundemüde. Ich hab
mir gesagt, meine Arbeit ist zu Ende, ich kann hier in meiner Garderobe
schlafen, bis der Club geschlossen wird. Auf jeden Fall macht Jackie weniger
Lärm als zwei Marxisten. Ich mach also das Licht aus, leg mich hin und schlaf
ein. Ein Schrei weckt mich. Damit hatte Jackie einen späten Gast empfangen,
einen Kerl namens André. Wohl ein Freund von ihr und Bernard, ein schräger
Vogel, Typ Killer oder zumindest Schwarzmarkthändler. Ich konnte jedes Wort
verstehen. Jackie dachte, sie wär alleine, und ließ die Sau raus. Nun, sie hat
nicht laut geschrien, aber es wär bestimmt auch leiser gegangen. ,Sie haben mir
noch gefehlt!’ faucht sie den Kerl an. ,Ich hab interessante Neuigkeiten. Wir
sind nämlich beschissen worden! Nicht der Kroate ist bei mir eingestiegen, um
sich das zurückzuholen, was er mir verkauft hatte. Bernard war’s!’ Als ich das
hör, wälze ich mich vor Lachen. Jackie ist von ihrem Liebsten beklaut worden!
,Bernard?’ fragte André ungläubig. ,Aber der war doch mit Ihnen zusammen!’ —
,Kann schon sein’, zischt sie — eine richtige Schlange! — , ,möglich. Aber wie
erklären Sie es sich dann, daß er die geklauten Geldscheine mit sich
rumschleppt?’ Da explodiert André und flucht wie kein zweiter. ,Ich war mit ihm
Tee trinken’, erklärt Jackie, ,und er hat mit einem der Tausender bezahlt, die
aus meiner Truhe stammen.’ André gibt zu bedenken, daß sich Tausender nun mal
ziemlich ähnlich sehen... und wird aufs übelste beschimpft. ‚Außerdem’, beendet
Jackie die Diskussion, ,hatte ich die Nummern notiert, man weiß ja nie...
Wollen mal sehen, ob ich recht behalte.’ Dann beruhigen sich beide und reden
leiser. Ich konnte nichts mehr verstehen. Tja, das war’s. Hat es Sie
interessiert?“
„Und wie, meine Liebe!“ antwortete
ich. „Aber beschreiben Sie mir doch bitte noch ein wenig diesen André, ja?“ Die
Beschreibung, die mir Olga vom Freund der Tänzerin gab, paßte auf keinen meiner
Bekannten. Ich stand auf.
„Vielen Dank, Olga. Sie sind ein
Schatz. Darf ich Sie küssen?“
„Oh“, kokettierte sie, „ich weiß
nicht, ob ich das erlauben soll... Ein verheirateter Mann...“
„Wer ist hier verheiratet“ fragte ich
in die Runde. „Weil man mich hinters Licht geführt hat, bin ich noch lange
nicht verheiratet.“
„Und der Ehering da?“
Ich lachte.
„Das ist kein Ehering“, stellte ich
klar. „Das ist ein Siegelring, der macht, was er will.“
Ich drehte den Stein nach oben.
„Wenn das so ist...“ sagte Olga.
Ich küßte sie auf beide Wangen. Als
wir uns wieder losließen, teilte sie mir mit, daß ich erst der fünfzehnte sei,
der heute ihre Wangen abgeleckt habe. Ein reizendes Kind, die Kollegin der
allerliebsten Jackie Lamour. Wirklich!
Hirngespinste
Als Bett diente mir eine Matratze im
Winkel eines großen Raumes, in dem duftende Beutel mit getrockneten Feigen und
Datteln lagerten. Ich streckte mich aus, zündete mir eine Pfeife an und dachte
nach.
Alles in allem sah ich jetzt etwas
klarer. Ich glaubte mich nicht zu täuschen, wenn ich etwa folgendes annahm:
Bernard, der nichts von dem war, was
er mir erzählt hatte, war ein enger Freund von Jackie Lamour, einer wenig
frommen Marientochter. Diese war im Besitz von Briefen, die er sich unter den
Nagel reißen wollte, ohne sich selbst jedoch zu sehr in den Vordergrund zu
spielen. Das Beste war, an dem Tag, an dem die Briefe gestohlen werden sollten,
der Tänzerin nicht von der Seite zu weichen und sich dadurch ein wasserdichtes
Alibi zu verschaffen. Bernard rief Nestor Burma an. Warum gerade den? Aus mehreren
Gründen: Erstens, weil der Privatdetektiv einen, sagen wir, ganz
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