Das Gebot der Rache
lag mit ausgestreckten Gliedern auf dem Tisch und weinte. Sein Gesicht war mir zugewandt. Er war ebenfalls gefesselt und geknebelt. Seine Augen flehten mich an, ihm zu helfen.
»Sag mir, William.« Sie sprach ruhig, fast im Plauderton. »Was weißt du über Folter? Ich würde sagen, dass ich einigermaßen belesen bin, was dieses Thema angeht. Es hat mich durchhalten lassen, vor all den Jahren, als alles so hoffnungslos schien. Hat mich inspiriert, könnte man sagen. Als ich deinen Mr. Cardew beschattet habe, saß ich stundenlang in der Mitchell-Bibliothek und habe gelesen. Über die chinesischen, russischen und mittelalterlichen Praktiken. Welche Vorteile sie gegenüber zeitgenössischen Methoden haben.«
Ich hörte ein Geräusch. Es schien aus dem Bauch der ledernen Arzttasche zu kommen, als würde etwas gegen Glas stoßen. »Manchmal glaube ich, es war das Einzige, was mich bei Verstand gehalten hat. Du solltest dich glücklich schätzen, dass uns so wenig Zeit bleibt. Wenn doch nur alles ein wenig glatter gelaufen wäre.« Während sie sprach, ging sie um den Tisch herum, überprüfte Walts Fesseln und zog sie strammer. »Das hätte uns einige großartige Möglichkeiten eröffnet. Scaphismus zum Beispiel. Hast du je von Scaphismus gehört?«
Das große Messer in der Hand, setzte sie sich auf die Kante des Billardtischs und sprach weiter – nun offenbar in erster Linie an Walt gerichtet, der hinter ihr weinend an seinen Fesseln zerrte. »Es stammt von dem griechischen Wort ›scaphe‹ ab, was so viel wie ›aushöhlen‹ bedeutet, wurde aber hauptsächlich im antiken Persien praktiziert. Die waren ganz schön gerissen, diese Perser. Sie brachten dich im Sommer ans Flussufer und steckten dich gefesselt in einen ausgehöhlten Baumstamm, sodass dein Kopf an einem und die Füße am anderen Ende herausschauten. Dann ließen sie dich im flachen Wasser zwischen den Schilfrohrhalmen treiben, während sie dich ein paar Tage lang mästeten. Sie gaben dir so viel Milch und Honig zu trinken, dass du Durchfall bekamst. Irgendwann war der ganze Baumstamm voll mit stinkenden Ausscheidungen. Wenn sie dich überhaupt nicht ausstehen konnten, rieben sie dir Gesicht und Füße mit Honig ein. Und überließen dich dann dir selbst. Obwohl, nicht so ganz. Sie blieben, um zuzusehen und dich weiter zu füttern. Manchmal versammelten sich wahre Menschenmengen am Ufer, die johlten und klatschten, während du in der brütenden Sonne im brackigen Wasser dümpeltest. Natürlich hatte man dich vorher gründlich zusammengeschlagen, sodass dir die eigenen Ausscheidungen nicht nur in Mund und Augen, sondern auch in die schwärenden Wunden drangen. Dann kamen die Insekten. Fliegen und Moskitos. Ameisen, Wespen, Käfer und was sonst noch alles. Riesige Libellen. Pferdebremsen, so groß wie Schwalben. Sie stachen dich, bissen dich, fraßen dich und legten ihre Eier in dir ab. Die Perser gaben dir weiter Essen und Wasser, strichen dich weiter mit Honig ein. Sie wollten nicht, dass du verhungerst oder verdurstest. Sie wollten zusehen, wie die Wolke der Insekten immer weiter anwuchs, wie sie größer und größer wurde: größer als ein Auto, so groß wie ein Bus, wie ein Wal. Wie diese Wolke dich allmählich verschlang, während du Tag und Nacht wie am Spieß brülltest, weil inzwischen klumpenweise Maden und Larven unter deiner Haut hervorkrochen. Weil dein Gesicht sich in eine große, geschwollene Masse aus Beulen, Bissen und eiternden Wunden verwandelte. Weißt du, dass es verbriefte Fälle gibt, in denen Menschen das siebzehn Tage lang durchgehalten haben, bevor sie an einem septischen Schock starben? Siebzehn Tage. « Sie seufzte. »Leider haben wir nicht so viel Zeit. Also habe ich mir für unseren kleinen Walt hier so eine Art Kurzfassung ausgedacht.«
Sie ging zu ihrer Tasche. Bitte, Gott, nein.
»Ich glaube, was wir Menschen als Fleischfresser an der Spitze der Nahrungskette am meisten verabscheuen, ist die Vorstellung, dass jemand von unserem Fleisch frisst. Sich durch unser Fleisch frisst.«
Sie griff mit beiden Händen in die Tasche und nahm ein großes Einmachglas mit Schraubdeckel heraus, wie man sie manchmal in altmodischen Süßwarenläden sieht. Im Deckel waren Luftlöcher.
In dem Glas befand sich eine fette, schwarze Ratte.
Das Tier war riesig. Es füllte das Glas nahezu völlig aus. Sein langer, rosiger Schwanz ringelte sich feucht glänzend einmal um den Boden. Sie stellte das Glas auf die Bande des Billardtischs. Die
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