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Das Geburtstagsgeschenk

Das Geburtstagsgeschenk

Titel: Das Geburtstagsgeschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Vine
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Haar, Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Der lange schwingende Rock streifte schmale zarte Fesseln. Man könne verstehen, sagte Ivor, der unverbesserliche Frauenheld, warum ein flüchtiger Blick auf weibliche Fesseln die Viktorianer in Wallung versetzte. Lloyd Freemans Freundin bemerkte ihn in dem Moment, als die Wohnungstür sich öffnete, erkannte ihn aber offenbar nicht. Es war ein schöner Tag für Mitte November, sonnig, aber recht frisch. Ivor ging die Treppe hinunter und suchte sich in der Grünanlage von William Cross Court eine Bank neben einem Beet mit kränklichen Geranien. Er setzte sich und wartete darauf, dass die Frau wieder herauskam

10
    Als sie nach einer halben Stunde noch nicht aufgetaucht war, ging Ivor mit sich zu Rate. Was sollte er machen, wenn sie kam? Sich vorstellen? Wie viel wusste sie von dem Geburtstagsgeschenk? Alles, einen Teil, gar nichts? Energisch verbot er sich den Gedanken, dass sie und Mrs. Lynch womöglich da oben gerade beratschlagten, wie man ihn bloßstellen oder gar eine Entschädigung aus ihm herausholen könne. Die naheliegende Erklärung war die, dass diese Frau – hatte Lloyd sie in seiner Hörweite mal bei ihrem Namen genannt? – die Bekanntschaft von Mrs. Lynch gesucht hatte, weil sie Mitleid mit ihr hatte. Sie saßen gewissermaßen im selben Boot. Lloyd war bei dem Unfall ums Leben gekommen, Dermot schwer verletzt worden. Was lag da näher, als dass sich die große dunkelhaarige Frau mit den traumhaften Fesseln Dermots unglücklicher Mutter annahm?
    Aber welchen Sinn hatte es, auf sie zu warten? Er konnte nicht auf sie zugehen und sie nach Dermots Befinden fragen – ein Thema, um das es vermutlich jetzt in der Wohnung Nummer 23 ging. Er kannte sie nicht, sie kannte ihn nicht. Das Gespräch da oben konnte noch Stunden dauern. Wäre es nicht am vernünftigsten, wieder zu seiner Tagung zu fahren oder einfach nach Hause zu gehen – um weiter Qualen zu leiden, sobald er eine Zeitung aufschlug oder ein Journalist ihn ansprach? Diese Überlegungen kann man nachvollziehen, aber ich denke mir, dass er auch deshalb gewartet hat, weil die Frau so attraktiv war – viel attraktiver, viel schöner, als er sie von jener ersten Begegnung her in Erinnerung hatte. Und trotz aller Sorgen und Ängste konnte Ivor eben nicht aus seiner Haut.
    Die Wartezeit war dann gar nicht mehr so lang. Nach einer Dreiviertelstunde kam sie aus dem Haus und ging zügig, ohne in seine Richtung zu sehen, zum U-Bahnhof Warwick Avenue. Ivor stand auf und folgte ihr.
     
    Hätte sie sich umgedreht und ihn auf dem Weg zu den Rolltreppen gesehen, sagte Ivor, hätte er darauf verzichtet, ihr zu folgen. Aber sie drehte sich nicht um. Offenbar hatte sie eine Hin-und-Rückfahr-Karte. Ivor kaufte sich eine Fahrkarte am Schalter, die teuerste Kategorie, weil er keine Ahnung hatte, wie weit sie fahren würde. Am Ende der Rolltreppe ging er zunächst auf den Bahnsteig, an dem die Züge in südlicher Richtung fuhren. Dort war sie nicht. Er entdeckte sie am rechten Ende des Bahnsteigs in Richtung Norden.
    Die Gegenden, die dieser Teil der Bakerloo Line bediente, waren für ihn Neuland: Queen’s Park, Kilburn Park, Willesden Junction. Er kannte nur West Hendon. Und er war stolz auf seine Unwissenheit. Wenn ein Gerry Furnal nicht wusste, wo die Jermyn Street war oder der Carlton Club, entlarvte er sich als Provinzler, während die Tatsache, dass Ivor nicht die mindeste Vorstellung davon hatte, wo der U-Bahnhof Willesden Junction lag, nur dessen Weitläufigkeit bewies. Der Zug kam, Freemans Exfreundin stieg ein, Ivor stieg in den Wagen unmittelbar dahinter. Was er da trieb, hatte etwas Unwirkliches. Er, ein Minister der Krone, ein Parlamentarier, heftete sich einer Frau an die Fersen wie ein schmieriger Privatdetektiv. Ihm war durchaus bewusst, dass die ganze Unternehmung verächtlich und würdelos war – aber jetzt aufgeben? Nein, das brachte er nicht fertig. Als er sie in Queens Park an seinem Wagenfenster vorbeigehen sah, stieg er rasch aus und folgte ihr auf die Straße. Sie sah sich noch immer nicht um.
    Er versuchte, sich an die Vorwahl der Telefonnummer zu erinnern, die Lloyd ihm gegeben hatte, aber er wusste nur noch, dass sie mit 081 anfing. Hatten Lloyd und sie zusammengewohnt, oder hatten sie getrennte Wohnungen gehabt? Er machte sich Vorwürfe, dass er seinerzeit auf der Party nicht nach ihrem Namen gefragt hatte, obwohl er damals noch nicht hatte ahnen können, was auf ihn zukommen würde. Hätte ihm

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