Das gefrorene Lachen
und blutrot. Ihr Vater. Schwarz und weiß und … Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, aber er hing fest wie eine Klette. Zwei Seiten einer Münze, dachte sie. Wie Brüder, die sich hassen und trotzdem Rücken an Rücken zusammengewachsen sind. Schwarz und weiß und blutrot und böse …
»Nein«, sagte sie laut und energisch. Denk an etwas anderes. Gadshill und Archidamus. Gesichter aus Stein mit Taubenfedern zwischen den Zähnen. Woher kannte sie die beiden Wasserspeier? Was hatte der Gesang der beiden zu bedeuten – Nordturm, ach Nordturm? Er brachte etwas in ihr zum Klingen, als hätten sie damit eine Saite angeschlagen, die tief verborgen in ihrem Inneren darauf gewartet hatte, dass ein Finger an ihr zupfte.
»Nordturm, ach, Südturm«, sagte sie laut vor sich hin. Und sie hatten sie »Zauberlehrling« genannt. Und bei einem seltsamen Namen, der ihr nicht gehörte und den sie dennoch zu kennen glaubte. »Philippa«, das war der Name, den ihre Mutter ihr gegeben hatte, auch wenn sie niemals jemand so nannte, aber »Saffronia …« – was bedeutete das?
Sie sang all das Rätselhafte eine Weile vor sich hin.»Nordturm, Südturm, ach, Zauberlehrling, Philippa Saffronia. Nordturm. Südturm, ach …« – bis die Worte jeden Sinn verloren und nur noch Silben waren, die seltsam fremd und seltsam tröstlich klangen.
Der Gesang vertrieb die bösen Gedanken. Philippa setzte sich auf und holte die Glückskekse aus der Tasche.
Sie betrachtete die glänzend braunen, schiffchenförmigen Kekse und überlegte, welchen sie zuerst aufbrechen sollte. Sie sahen völlig gleich aus, wie alle Glückskekse, in die Zarter Blütenzauber seine Gedichte einbuk. Warum er das wohl tat?
Pippa zerbrach den mittleren Keks und zog das Papier heraus. Sie glättete es zwischen den Fingern und las:
Zaubertochter
Sonnenschein im Herzen der Blüte
Saffronia
»Wie?«, sagte sie und runzelte die Stirn. Sie wendete das dünne Blättchen zwischen den Fingern, schaute auf seine Rückseite, auf der die Worte wie kleine Spinnen rückwärtsliefen, und legte das Papier dann ganz behutsam in ihren Schoß. Pippa zog die Lippe zwischen die Zähne. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie laut.
Kurz entschlossen griff sie zu dem zweiten Keks, zerbrach ihn, zog das Gedicht heraus.
Mauern, die im Ostwind frieren
verlorene Seelen, verlorener Stein
Oh, Nordturm – ach, Südturm!
»Das ist doch …« Pippa schleuderte das Papier von sich, als hätte es sie gebissen. Es wehte empor und trudelte dann sacht, sanft und harmlos wieder nach unten auf ihren Schoß, um sich auf das andere zarte Blatt zu legen.
Pippa starrte den dritten Keks an. Unschuldig, glänzend und süß duftend lag er da.
Sie zerdrückte ihn und fegte die Krümel achtlos auf das Sofa. Da lag der dritte Zettel, blass schimmernd mit seinem Muster aus schwarzen Schnörkeln und Kringeln. Pippa griff zögernd danach und ihre Finger zitterten.
Rot wie Blut, böser Zauber
Spiegelbrüder …
Pippa legte ihre Hand über die Schrift und schloss die Augen. Sie wollte nicht weiterlesen. Nein, sie konnte nicht weiterlesen. Ihr Kopf schwirrte und brummte. Wie konnte das sein? Wie konnte der Koch etwas aufgeschrieben und in dünnen Teig gebacken haben, von dem er gar nichts wissen konnte? Das noch gar nicht geschehen war, als er seinen Pinsel in die Tusche tauchte? Gedanken, die in ihrem Kopf waren, die sie vor ihm nicht ausgesprochen hatte – die sie gar nicht hatte aussprechen können, weil sie diese Gedanken noch gar nicht gedacht hatte!
Sie öffnete die Augen und hob ihre Hand.
Rot wie Blut, böser Zauber
Spiegelbrüder, Weiß und Schwarz
schwarze Tränen, rote Trauer
Pippa legte den Zettel auf die beiden anderen und schloss wieder die Augen. Was hatte das nur zu bedeuten?
Kurz entschlossen stand sie auf und stellte sich vor die Gedichtewand. Sie begann zu lesen: vom ersten Zettel, der rechts neben der Tür hing, seitwärts und abwärts, Gedicht um Gedicht. Bilder blühten wie zarte Anemonen in ihrem Geist auf, Lichter spielten darüber und Schatten tanzten, Farben changierten, das Verstehen lag immer ein winziges Stück außerhalb ihrer Reichweite.
Sie hielt inne und schloss die Augen. Etwas verband all diese Gedichte, ein roter Faden, den sie spüren, aber nicht fassen konnte. Leise flüsterte sie eins der Gedichte vor sich hin:
Seht die Türme!
Das Haus des Königs
Hell im goldenen Licht.
Wieder die Türme. Und das Haus eines Königs, also ein
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