Das gefrorene Lachen
fügte sie sich einen neuen, tiefen Schnitt am Bein zu, aber sie zwang sich, den Schmerz zu ignorieren und nicht vor der scharfen Schneide zurückzuweichen. Das nächste Schwert, das nächste …
Es fuhr durch den Schlitz über ihr und wurde begleitet von giftgrünen Nebelschwaden. Beides sauste auf sie herab. Pippa bog den Nacken, bis sie glaubte, er müsste brechen, zog die Schultern hoch, krümmte den Rücken, und das Schwert stieß herab und durchbohrte ihren Brustkorb, als schnitte es durch weichen Käse. Der grüne Nebel waberte hinterher, umhüllte ihren Kopf und drang durch die Nase und den zum Schreien geöffneten Mund in ihr Inneres, füllte sie aus, ersetzte das Blut, das nun in einem heißen Schwall aus ihrem Körper spritzte.
Sie hing aufgespießt in der finsteren, engen Kiste, und draußen ertönten die ersten Schreie: Blut! Seht doch, da ist überall Blut! Stühle fielen um, immer mehr Schreie, das Geräusch rennender Füße …
Der Kistendeckel flog auf und grelles Licht blendete ihre Augen.
»Stehst du endlich auf? Ich habe dir doch gesagt, dass wir heute Vormittag auftreten müssen«, schimpfte Lorenzo.
Sie starrte ihn an und tastete fahrig über ihre Brust, ihr Bein, ihre Kehle. Kein Blut. Keine Schwerter. Kein grüner Nebel. Sie lag in ihrer Hängematte, in ihre Decke verstrickt, und rang nach Luft.
Als ihr Atem wieder ruhiger ging, stand sie auf undlief hinaus zur Pumpe. Das eiskalte Wasser vertrieb die grünen Nebel der Nacht und ließ die Erinnerungen an den schrecklichen Traum verschwinden.
Sie rannte zum Küchenwagen und holte sich eine große Tasse Tee und ein Brot. Es war nicht mehr viel Zeit bis zum Auftritt, deshalb lief sie mit der schwappenden Tasse in der Hand und dem Stück Brot in der Rocktasche zum Garderobenwagen, wo sie das Brot pickte und tröpfchenweise ihren Tee trank, während sie in ihr Kostüm stieg und Janne ihr die Haare frisierte und das Gesicht puderte.
Lorenzo stand schon ungeduldig mit dem Fuß tappend hinter dem Rückvorhang, als sie außer Atem mit den restlichen Requisiten angelaufen kam. »Es wird auch Zeit«, empfing er sie unfreundlich. »Wir kürzen den Auftritt heute ab. Es sind nicht allzu viele Leute da, ich hole mir niemanden aus dem Publikum.«
Pippa nickte, nahm zwei Kartenspiele und das Spiegelchen für die Wahrsagenummer vom Tisch und sortierte schnell noch die Papierblumen, die für den morgigen Nachmittagsauftritt gebraucht wurden.
Ihre Auftrittsmusik ertönte. Pippa öffnete den Vorhang, damit Lorenzo ungehindert hindurchschreiten konnte, und rollte den Tisch hinter ihm her.
Sie konnte hinter den Rampenlichtern die Stuhlreihen erkennen. Viele Stühle waren leer, aber das war normal für die erste Vormittagsvorstellung. Wenn sich erst einmal herumgesprochen hatte, was geboten wurde, waren die weiteren Matineen meistens gut besetzt und die allerletzten in der Regel sogar ausverkauft.
Das Programm lief nicht so ab, wie es sollte. Die Zuschauer waren unruhig und laut, und das störte Lorenzo in seiner Konzentration. Er wirkte gereizt und seine Handgriffe waren fahrig und ungenau. Pippa sah, dass seine Hände zitterten.
Der erste Trick ging daneben. Der Magier rettete sich mit einer schnellen Drehung, die einen Teil der heruntergefallenen Tücher und Ringe verdeckte, und lenkte das Publikum mit einer kleinen Kaskade von farbigen Bällen ab, die aus dem Nichts erschienen und wieder verschwanden. Pippa schloss die Augen. Diesen einfachen Trick hätte sie ohne vorherige Probe für ihn ausführen können, aber er musste sich mit echter Zauberei aus der Affäre ziehen.
Sie schauderte. Eine Gänsehaut lief über ihre bloßen Arme. Woher kam dieser kalte Luftzug? Und wieso hatte sie das scheußliche Gefühl, all das schon einmal ganz genauso erlebt zu haben?
Lorenzo stolperte weiter durch seinen Auftritt. Die Unruhe im Zuschauerraum nahm mit jedem Patzer, jeder vernuschelten Ansage, jeder fahrigen Handbewegung des Magiers weiter zu. Pippa hörte, wie die Leute sich zischelnd und brummelnd unterhielten. Jemand rief: »Das ist doch Laurentio». Eine Frauenstimme wiederholte den Namen. Wahrscheinlich hatten die Leute Lorenzos Namen falsch gelesen. Über so etwas ärgerte ihr Vater sich immer grün und blau. Er war Lorenzo der Große, der Unvergleichliche und nicht irgendein Feld-Wald-und-Wiesen-Laurentio.
Als die Unruhe im Publikum immer störender wurdeund kaum noch zu ignorieren war, fuhr Lorenzo zu ihr herum und zischte: »Hol die
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