Das gefrorene Lachen
»Nein, natürlich nicht«, sagte er kleinlaut. »Entschuldige, wenn ich dich gekränkt habe. Du bist die klügste und schönste Frau, die ich kenne, viel klüger als ich, und du kannst alles, was du willst.«
Pippas Zorn schmolz dahin. Sie legte ihre Hand auf seine Wange. »Nein, du musst entschuldigen. Ich hätte nicht gleich böse werden dürfen. Du bist mein Gustl, mein Prinz, und der klügste und schönste Mann, den ich kenne.«
Er wurde wahrhaftig rot, räusperte sich und blickte intensiv auf die Gedichte hinab. »Also«, sagte er rau.
»Ja, sehen wir es uns an.« Pippa lächelte in sich hinein. August war leicht aus der Fassung zu bringen.
Sie schaute auf die Gedichte, die sie längst auswendig konnte.
Leuchtend zarter Blütenzauber
Im Mondschein über dem Wasser
Ach, Ostwind, kalt und böse
Neidest dem
Frühling die Pracht
Gierig greifend zerstörst du den Zauber
Die zarte Blüte erfriert im Schnee
Ostwind, eisiger
Herrscher
Nordkalt dein Atem. Im Eiseshauch
Gefriert zarter Blütenzauber, erstickt und stirbt.
»Ich weiß, dass da etwas ist«, rief sie aus. »Es kratzt mich im Kopf. Es juckt in meinen Augen. Es kribbelt unter meiner Haut. Ich sehe es und sehe es doch nicht!« Sie ballte grimmig die Hände.
Liebliches Wehen
In den Lüften
Ach,
Nordturm!
Glück, zertreten im zarten Gras
Donner und Blitz, kalt bläst der
Ostwind, zerstört die Blüte
Nebel senkt sich über traurige Seelen
Glück, zerstört durch bösen Zauber
Ich sehe nichts«, sagte August. »Beide Male sind es fünf und vier Zeilen, das ist gleich. Der Ostwind kommt vor, die zerstörten Blüten, der kalte und böse Zauber. Aber das wissen wir doch schon alles und es hilft uns nicht weiter.«
Pippa hörte nicht auf ihn. Sie starrte auf die drei unschuldig weißen, inzwischen etwas zerknitterten und fleckig gewordenen Blätter hinab.
Lösender Zauber
In Tusche und Papier
Allein enträtselt durch
Niemals endende
Geduld
Dunkle Mitternacht, hell leuchtender Osten
O Ostwind, kalt und böse
Nimmermehr beherrschst du den
Gefangenen
des irdenen Gefäßes
Es flimmerte vor ihren Augen. Die zierlich getuschten Buchstaben tanzten vor ihren Augen einen höhnischen Tanz. Siehst du es wirklich nicht?, schienen sie zu rufen. Es ist doch ganz offensichtlich. Wie dumm kann man denn sein, das nicht zu erkennen, was so deutlich zu sehen ist?
»Gustl«, flüsterte sie. »Ich war so dumm.« Sie deutete mit dem Finger auf jede der Zeilen der drei Gedichte. »L«, sagte sie. »I-A-N-G«
August sog scharf die Luft ein. »Du hast es«, rief er. »D-O-N-G« Er blickte auf und schüttelte den Kopf. »Du hast es gefunden. Aber was hat das zu bedeuten?«
Pippa starrte immer noch auf die Gedichte hinab, sie war gleichzeitig aufgeregt und zutiefst enttäuscht. Das war es also gewesen, was sie die ganze Zeit gesehen und doch nicht erkannt hatte? Und jetzt?
»Liang Dong«, sagte sie und wollte hinzusetzen, dass es keinen Sinn ergab, aber als sie die beiden Worte aussprach, geschah etwas. Die Welt zitterte. Die Luft um sie herum wurde dickflüssig wie Gelee und warf Blasen. Eine Welle, die sie nicht sehen, aber fühlen konnte, brandete heran und durch sie hindurch. Sie war mit einem Mal nahezu blind, sie schrie, aber kein Ton drang aus ihrer Kehle. Sie schlug die Hände vor die Ohren, denn ein tosendes Rauschen erfüllte ihren Kopf.
Der Sturm, der beinahe erstorben war, brüllte auf wie ein gefangenes Tier und warf sich mit einer solch blindwütigen Wucht gegen das Theater, dass der ganze Bau zu ächzen und zu beben begann und das Bühnenhaus sich knarrend zur Seite legte.
Pippa, die immer noch blind und taub mit den Kräften kämpfte, die so unvermittelt auf sie einstürmten, wankte, taumelte und fiel zur Seite. August, den anscheinend nur ein Ausläufer der Geschehnisse berührt und für einen kurzen Moment außer Gefecht gesetzt hatte, schrie auf und griff nach ihr, aber es war zu spät. Pippa rutschte vom Balken herab und fiel. Im selben Moment kehrte ihre Sicht wieder und das Tosen in ihren Ohren verebbte. Sie hörte, wie August ihren Namen schrie, streckte die Hände nach ihm aus, aber es war zu spät. Unter ihr waren nur noch Dunkelheit und ein Abgrund, der sich öffnete wie ein hungriges Maul.
Sie fiel und der Wind riss an ihren Kleidern. Sie drehte sich, während sie hinabstürzte, und breitete die Arme aus, als wollte sie fliegen. Aber da waren keine Flügel, und in ihrer Panik wollte ihr auch kein Zauber einfallen, der sie in einen
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