Das gefrorene Licht. Island-Krimi
veränderte sich schlagartig. Es erschlaffte, und eine Sekunde lang hatte Dóra den Eindruck, es würde schmelzen. »Oh mein Gott«, sagte Stefanía. Sie schien einen Kloß im Hals zu haben. »Das ist alles so entsetzlich.«
»Das ist es«, bestätigte Dóra. »Sie gehörte also nicht zu den unangenehmen Frauen?«
»Nein, auf keinen Fall. Sie war hinreißend.« Stefanía leerte ihr Glas in einem Zug. Anschließend nahm sie den kleinen Zahnstocher mit der Kirsche, steckte ihn in den Mund und sog eine Weile daran. Dann legte sie ihn feierlich neben die anderen Zahnstocher auf den Tresen. »Die ganze Geschichte hat mich so durcheinandergebracht, dass ich gar nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.« Sie sah Dóra an. »Normalerweise komme ich sonntagabends nicht hierher. Obwohl ich in der Nähe wohne.«
»Verstehe«, sagte Dóra, die überhaupt nichts verstand. »Du scheinst Birna ja ganz gut gekannt zu haben. Hast du eine Ahnung, wer möglicherweise schlecht auf sie zu sprechen war?«
Stefanía hob das leere Glas und drehte es in kleinen Kreisen. Ein paar übrig gebliebene Tropfen schwenkten am Boden des Glases umher. »Ja, habe ich«, sagte sie ruhig.
»Aha?« Dóra konnte ihren Eifer nicht verbergen. »Wer denn?«
Stefanía schaute Dóra an. »Ich habe Schweigepflicht. Sexualtherapeuten haben diesbezüglich die gleiche Stellung wie Ärzte. Und Anwälte.«
Dóra hätte bei dem Vergleich fast laut aufgelacht. Obwohl das gar nicht so abwegig war. Ihr Kanzleipartner Bragi könnte bei seinen Scheidungsfällen durchaus mal mit einem Sexualtherapeuten konfrontiert sein. »Als Rechtsanwältin weiß ich, dass es da Ausnahmen gibt – das Allgemeinwohl zum Beispiel.«
Stefanía überlegte und gab dann nach. »Wenn du Anwältin bist, kann ich dir ja wahrscheinlich davon erzählen, oder? Es sind nur Namen, und du sagst sie keinem weiter. Das Allgemeinwohl spielt dabei allerdings keine Rolle.«
Dóra traute ihren eigenen Ohren nicht, wie gut die Sache lief. Sie hatte sich schon auf ein langes Gespräch an der Bar eingestellt, bei dem Stefanía irgendwann zu betrunken sein würde, um sich noch an ihre Schweigepflicht erinnern zu können. »Ich erzähle es niemanden. Ganz bestimmt nicht.«
»Gut«, sagte Stefanía. »Mir schlägt das schon die ganze Zeit auf den Magen, weil ich es niemandem erzählen kann. Vielleicht geht’s mir danach besser.« Sie blickte Dóra ins Gesicht. »Versprochen?«
»Versprochen«, sagte Dóra. Hinter ihrem Rücken kreuzte sie die Finger, denn sie würde nicht umhinkommen, es Matthias zu erzählen. »Wer war schlecht auf Birna zu sprechen?«
Stefanías Behauptung, sich jemandem anvertrauen zu müssen, entsprach offenbar der Wahrheit, denn sie redete dreimal so schnell wie zuvor. »Sie hatte was mit einem verheirateten Bauern aus der Nachbarschaft. Er heißt Bergur und wohnt auf dem Hof Tunga. Sie hatten ziemlich ungehemmten Sex, und sie hat mich um Rat gefragt. Sie fand, es würde etwas zu weit gehen.«
»Und konntest du ihr helfen? Hast du ihr geraten, ihn nicht mehr zu treffen?« Eine Trennung wäre für einen wütenden Mann vielleicht Grund genug, einen Mord zu begehen.
Stefanía stellte ihr Glas ab. »Nein.« Sie steckte sich einen rotlackierten Fingernagel in den Mund, biss fest darauf und zog ihn wieder heraus. An der Spitze war ein weißer Fleck zu sehen; der Lack war bereits abgesprungen. »Nein, das habe ich nicht.« Zerstreut starrte sie in ihr Glas. »Ich habe ihr geraten, es einfach zuzulassen. Grober Sex sei meistens völlig harmlos.«
»Oh«, sagte Dóra. »Ich verstehe, dass es dir damit nicht gutgeht.«
Stefanía nickte langsam. Sie schaute Dóra an und bemerkte dabei Matthias. Bis dahin war sie so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie ihn gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Sie lächelte und machte ein Gesicht, das Dóra überhaupt nicht gefiel. »Wer ist denn das? Dein Freund?«, fragte sie schmeichelnd.
Dóra beschloss, sich ihren Alleinanspruch im Schutze der isländischen Sprache zu sichern. »Er ist Ausländer. Ist zur Erholung hier.« Sie beugte sich zu Stefanía und senkte die Stimme. »Aids.« Anschließend nickte sie verschwörerisch und setzte sich wieder gerade hin.
Stefanía riss die Augen auf. »Schlimm«, sagte sie enttäuscht. »Wenn ihr wollt, kann ich euch ein paar Ratschläge geben. Beim Sex gibt es viele Möglichkeiten, sich auch ohne Geschlechtsverkehr zu ...«
»Nein, danke«, unterbrach Dóra und lächelte höflich. »Nicht nötig.«
Weitere Kostenlose Bücher