Das Gegenkreuz
angerufen. Eine gewisse Sheila Conolly, die Kate Hogan flüchtig kannte, und auch sie war geschockt über den Tod von Orry Voss, und sie hatte mehr wissen wollen. Kate hatte ihr alles erzählt, was sie wusste, denn sie hatte bei dieser Sheila Conolly ein sehr gutes Gefühl. Das war eine anständige Frau, und sie wollte sich mit Orry Voss’ Tod nicht so einfach ab finden.
Jetzt aber kehrte bei Kate Hogan die Einsamkeit zurück und damit auch ihre trüben Gedanken. Das Gefühl, das sie überkam, war nicht neu. Sie hatte den Eindruck, als würden die Wände des Zimmers näher an sie heranrücken. Es gab leichte Probleme mit der Atmung, und sie erlebte auch wieder das harte Klopfen ihres Herzens.
Trotzdem wollte sie nicht in ihrem Sessel bleiben. Der Wunsch, ans Fenster zu treten, stieg in ihr hoch und verwandelte sich in einen regelrechten Drang.
Vor der Scheibe blieb sie stehen. Sie lag nicht zur Gänze frei, so musste die alte Frau zuerst die beiden Seiten der Vorhänge etwas zur Seite schieben, damit sie nach draußen schauen konnte, wo ein kleiner Park das Haus umgab.
Da Kate Hogan im vierten und gleichzeitig auch im letzten Stock des Hauses lebte, gelang ihr ein Blick über die blassbraunen Kronen der Bäume hinweg bis hin zur Mauer an der Rückseite des Geländes.
Früher hatte sie sich über sonnige Wintertage gefreut. Heute aber nötigten ihr die klare Luft und der blaue Himmel nicht mal ein Lächeln ab. Für sie war eigentlich jeder Tag gleich, und wenn sie ehrlich war, dann wartete sie darauf, dass ihr der Sensenmann die knochige Hand reichte.
Die Sonne war bereits so weit über den Himmel gewandert, dass sie Kate nicht mehr ins Gesicht schien. So konnte sie ungehindert nach draußen blicken und auch einige Mitbewohner sehen, die das schöne Winterwetter nutzten, um im Park spazieren zu gehen.
Manche gingen in kleinen Gruppen. Andere waren allein und doch nicht allein, denn sie saßen in einem Rollstuhl und wurden geschoben.
Kate öffnete das Fenster. Sie ließ frische Luft hinein, und es war ihr auch nicht zu kalt. Die Heizung funktionierte sowieso nicht richtig, sie war immer zu warm, und deshalb freute sie sich auf eine Mischtemperatur.
Kate Hogan schaute nach draußen und dachte an nichts. Ihr Kopf war leer, die Gedanken irgendwo verschwunden. Dass einige Elstern durch die Luft flogen und sich schließlich auf den Baumästen verteilten, nahm sie ebenfalls kaum wahr.
Dafür hörte sie in ihrem Rücken ein Geräusch. Es war ein leises Schleifen oder ein Ausatmen, so genau konnte sie das nicht feststellen, doch als sie sich umdrehen wollte, bekam sie einen kalten Schauer mit, der nichts mit der Kälte draußen und dem offenen Fenster zu tun hatte.
Dieser Schauer war anders.
Sie wollte sich umdrehen, da legten sich die Gewichte auf ihre Schultern, und sie vernahm dicht hinter sich eine böse Flüsterstimme.
»Bleib so stehen, alte Frau. Bleib so stehen...«
Kate Hogan erstarrte. Es war allein der Klang der Stimme, der dafür sorgte. Sie kannte sie nicht, aber sie war so bestimmend, dass die alte Frau von einer wilden Furcht überfallen wurde und auch ein Zittern nicht vermeiden konnte.
Kate rührte sich nicht mehr.
Sekunden verstrichen, in denen sie nicht mal richtig wusste, wer sie überhaupt war. Sie schien in etwas hineingerutscht zu sein, das nicht mehr den Begriff Leben verdiente, und wieder dachte sie an den Sensenmann. War er nun endgültig gekommen, um sie zu holen?
»Warum hast du das getan, alte Frau?«
Ein Gedanke huschte durch ihren Kopf. Sprach so der Sensenmann, wenn er jemanden holen wollte?
Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Ihr Besucher musste ein anderer sein. Aber warum hatte sie ihn dann nicht gehört? Und was sollte die Frage?
Sie musste allen Mut zusammennehmen, um sprechen zu können. »Was haben Sie damit gemeint?«
»Du hast telefoniert...«
»Ähm... nein... ja, ich bin angerufen worden.«
»Eben.«
»Aber dafür kann ich nichts.«
»Das weiß ich.«
Ihr wurde noch kälter. Sie hatte das Gefühl, dem Tod sehr nahe zu sein. Aber wer war dieser Unbekannte, von dem sie bisher nichts gesehen hatte? Wegen des offenen Fensters malte sich nicht mal ein Umriss in der Scheibe ab.
Kate wollte sich verteidigen, und sie sprach dabei mit schwacher Stimme. »Ich kannte die Frau.«
»Das weiß ich. Ich weiß vieles, alte Frau. Du hättest viel weiser sein sollen. Doch du hast ihr Auskünfte erteilt, und das war nicht gut. Es kann mir nicht gefallen,
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