Das geheime Kind
zu.«
»Was brabbelt er denn?«
»Kindisches Zeug. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlt zum Beispiel, wegen irgendwelcher Lappalien. Dass er kein zweites Eis bekommen hat, etwas in der Art. Dann ackert er das im Bett endlos durch, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand.«
»Tut das nicht weh?«
»Wir können’s ihm nicht abgewöhnen. Ich hab Schaumstoff an die Wand geklebt, damit er sich nicht ernsthaft verletzt.«
»Verstehe.«
Photini dachte eine Weile nach.
Thorben Bahling wartete auf weitere Fragen.
Raupach schwieg und lauschte dem Regen.
Eine Aufzugtür öffnete sich, zwei Ärzte kamen heraus und gingen auf ihre Station. Sie unterhielten sich über die jüngste Etatkürzung, einer hatte ein paar Krücken unter dem Arm.
»Als Ihre Schwester noch bei Ihnen zu Hause wohnte«, machte Photini weiter. »Sind Ihnen da Geräusche aus ihrem Zimmer aufgefallen?«
»Bei Corinne war immer alles ruhig. Sogar tagsüber.«
»Kann schon einige Jahre zurückliegen.«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.« Er biss die Zähne zusammen, als koste es ihn Überwindung, ruhig zu bleiben. »Es heißt ja, achtzig Prozent aller Missbrauchsfälle würden in der Familie passieren.«
»Wer sagt das?«
»Der Kinderschutzbund, ich hab mich informiert. Aber ich kann mit diesen Zahlen nichts anfangen. Mein Vater hat uns vor zehn Jahren verlassen. Da war Corinne neun.«
»Wäre kein ungewöhnliches Alter«, sagte Photini.
»Mit neun?« Thorben Bahling verengte die Augen, als wolle er sie mit Blicken vernichten.
»Leider.«
»Wissen Sie noch, wie weit Sie mit neun waren? Körperlich?«
»Ungefähr.«
Photini wusste es eigentlich nicht mehr, ihre Kindheit kam ihr wie ein einziger Nebel vor. Sie wusste nur, dass ihr Vater immer wie ein Zerberus auf sie achtgegeben hatte, voller irrationaler Ängste, dass ihr etwas zustieß. Eleftherios war von dem griechischen Wort für Freiheit abgeleitet, ein Name, der nach der deutschen Besatzung wieder aufgekommen war. Seine Tochter hatte sich ihre Freiheit schwer erkämpfen müssen.
»Manche Männer tun so etwas«, sagte sie schließlich.
»Wie kommen Sie überhaupt auf diesen Bockmist? Reicht es nicht, was Corinne hinter sich hat? Warum packen Sie da noch Missbrauch obendrauf?«
»Gewisse Verhaltensmuster deuten bei ihr darauf hin.«
»Ist das alles? Für so einen schwerwiegenden Verdacht? Darf ich deswegen nicht zu ihr?«
»Es gibt eine Reihe von Anhaltspunkten, unsere Fachleute sind sich einig.« Photini beließ es dabei. »Wir haben gehofft, von Ihnen Näheres zu erfahren.«
»Von mir?«
»Ich verstehe ja, dass Sie Ihre Familie um jeden Preis schützen wollen. Es bringt uns nur nicht weiter.«
Thorben Bahling holte tief Luft. Er überlegte, wurde ruhiger, schien nach einer Erklärung zu suchen. »Wenn es so war, dann muss es von außen gekommen sein. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.«
»Und von wem?«
»Der Typ, der sie geschwängert hat. Den müssen Sie sich greifen.«
»Schon geschehen«, schaltete sich Raupach ein. »Ein junger Mann, etwa in Ihrem Alter. Wir glauben nicht, dass er es war.«
Thorben Bahling musterte den Kommissar, begriff, dass er nicht mehr über diesen jungen Mann erfahren würde, und schaute wieder zu Photini. »Und Otto? Was ist mit dem?«
»Warum er?«
»Leute wie Otto, die möchte man gern für Friedensengel halten. Aber wenn sie sich einen Schnaps genehmigen oder zwei, wenn eine ganze Flasche draus wird, dann ist es mit dem Frieden vorbei. Endlich sind sie mal am Drücker, das bedeutet Krieg, und im Krieg kann man sich nehmen, was einem gefällt.«
»Wintrich ist doch erst vor einem Jahr bei Ihnen eingezogen«, meine Photini. »Da war Corinne schon weg.«
»Sie hat sich eine Wohnung genommen, als er mit meiner Mutter was anfing. Das war vor zwei Jahren, fast zeitgleich. Otto trat auf den Plan, und Corinne haute ab. Komischer Zufall, oder?«
»Ihre Ausbildung begann.«
»Otto hat schon vor zehn Jahren was mit meiner Mutter gehabt. Wussten Sie das?«
»Ja«, sagte Raupach. »Nachdem sich Ihre Eltern trennten. Es hat nur ein paar Monate gehalten.«
»Zeit genug, um mal die Fühler auszustrecken.« Thorben Bahling ließ die Worte wirken. »Ich war damals zwölf, wer denkt da an Missbrauch? Deswegen ist mir auch nichts aufgefallen, und Corinne hat nie was rausgelassen.« Er machte eine weitere Pause, sah zu, wie die Polizisten eine Möglichkeit in Betracht zogen, die für sie neu war. »Aus irgendeinem Grund ging sie ungern zur
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