Das geheime Kind
Polen. Sie bauten es auf dem Tisch neben der Kasse auf und losten aus. Der Kommissar bekam Weiß und machte den ersten Zug.
Nicolas kapierte, worum es ging. Er spielte defensiv, versuchte, bestimmte Figuren so zu gruppieren, dass der Kommissar nachfragte. Die schwarze Königin? Das war Vera, seine Mutter. Der schwarze König? Klaus. Und der schwarze Läufer? Thorben.
Raupach ließ die weißen Figuren vorrücken. Der Bauer auf der e-Linie in der Mitte, der am stärksten bedroht war, stand für Nicolas. Stumm signalisierte der Junge, dass Corinne die weiße Dame war. Und der weiße Springer, der erst verspätet ins Geschehen eingriff, symbolisierte Otto.
Nicolas brauchte eine knappe Minute, um das Spiel zu beenden. Es war kein Matt. Er schlug nur die weiße Dame. Mit dem schwarzen Läufer.
Rückte vom Tisch ab. Nickte.
Er hatte nichts verraten. Nur Schach gespielt. Nach den richtigen Regeln.
Jetzt kam Numi an die Reihe. Er schnappte sich den Eisbären und schlitzte ihm mit seinem Messer den Bauch auf. Die Styroporfüllung quoll heraus.
»Hat dir jemand weh getan?«, fragte die Havemann.
»Wenn du einen Beschützer brauchst, kostet das was. Zum Beispiel, Klappe halten.«
»Ist Thorben dein Beschützer?«, fragte Raupach.
»Ich beschütze mich jetzt selbst.«
Sie sahen zu, wie Nicolas das Stofftier bis zur Unkenntlichkeit zerstückelte, ließen den Jungen sein Werk vollenden.
»Corinnes Bruder«, sagte Photini leise, überrascht, wie schnell alles gegangen war.
»Ja.« Raupach wog den schwarzen Läufer in der Hand. »Schach ist schon ein merkwürdiges Spiel.«
»Es hat keinerlei Beweiskraft.«
»Aber es verschafft uns Gewissheit. Wir fahren ins Krankenhaus zurück. Jetzt ist Thorben Bahling fällig.«
»Nimm Nicolas das Messer ab«, sagte Photini.
HEIDE FUHR HERUM. Hilgers stand hinter ihr und bat um ein kurzes Gespräch. Sie gab Vera Bahling den Rest ihrer Zigaretten und ging mit ihm zurück ins Krankenhaus.
Ein durchsichtiger Plastikbeutel. Darin ein Schlagring.
»Den habe ich auf dem Gang gefunden. Muss Reintgen aus der Tasche gefallen sein, als er dem Fotografen hinterher ist.«
Heide schaute sich das krallenartige Ding genauer an. »Da klebt Blut dran.«
»Sicher nicht sein eigenes.«
»Aber der Fotograf hat kaum was abgekriegt.«
»Der Obdachlose, den Reintgen in Ehrenfeld aufgelesen hat, umso mehr. Kotissek.«
»Sie glauben …« Heide erschrak, in Schüben. »Das ist eine ernste Anschuldigung.«
»Ich weiß.«
Leider war es nur allzu wahrscheinlich, dass sich Hilgers’ Verdacht bestätigte. Reintgen hatte offenbar härter als sonst hingelangt, in einem Anfall von Selbstjustiz, warum auch immer. Dass Kotissek dabei gestorben war, machte es zu einem Schwerverbrechen. Reintgen, dieser Schwachkopf, hatte es gnadenlos übertrieben. Und er hatte wahrscheinlich den Falschen ins Jenseits befördert. Kotissek galt als einziger, wenn auch widerspenstiger Zeuge.
Am meisten war Heide jedoch entsetzt über sich selbst. Ihre Schüsse im Nordpark. Die hätten genauso jemanden wie Kotissek erwischen können, einen Obdachlosen, der volltrunken in der Gegend herumlag – oder einfach nur sein Geschäft hinter einem Busch verrichtete.
Vielleicht sollte sie es wie Raupach machen: die Artillerie zu Hause lassen.
Sie gab Hilgers den Schlagring zurück. »Das muss ins Labor. Jetzt gleich.«
»Und was ist mit Reintgen?«
»Wird sofort vom Dienst suspendiert. Das übernehme ich.«
ER STRITT ES NICHT LANGE AB. Heide stellte ihn auf seinem Posten vor Corinnes Zimmer zur Rede. Als sie den Schlagring erwähnte, und er sich spontan an die Jacke fasste, wurde überdeutlich: Reintgen war der mieseste Bulle, der frei herumlief.
»Das waren nur oberflächliche Verletzungen«, verteidigte er sich, in die Enge getrieben, »nichts Lebensbedrohliches.«
»Wozu dann der Schlagring?«
»Damit der Kerl überhaupt was spürt.«
»Falsche Antwort.«
Reintgen überlegte angestrengt. »Kotissek, der sah nicht aus wie einer, der gleich die Grätsche macht. Atmung ganz normal. Der hätte noch viel mehr einstecken können.«
»Wer nimmt Ihnen das ab?«
»Die Sanis können’s bezeugen. Für die war das sicher genauso überraschend.«
Heide schickte Reintgen nach Hause. Der Mann brauchte dringend einen Anwalt und alle Hilfe, die er sonst noch kriegen konnte. Obwohl er nichts davon verdiente.
Sie ging der Sache weiter nach. Fragte am Schalter der Intensivstation nach den Dienstplänen der Rettungssanitäter und
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