Das geheime Kind

für bare Münze nahm, verunsichert, eingeschüchtert, sexuell unerfahren wie sie nun mal war.
    Klaus Bahling machte sich Vorwürfe. Die Trennung von seiner Familie habe Thorben den Weg geebnet. Mit fortschreitender Pubertät seien bei ihm alle Schranken gefallen, Alkohol habe wohl auch eine Rolle gespielt.
    Es dauerte ungefähr vier Jahre. Dann begann Thorben mit seiner Ausbildung. Corinne setzte sich zunehmend zur Wehr, blieb lange weg, achtete auf Begleitung, wenn sie nach Hause kam, übernachtete häufig bei Freundinnen. Schließlich zog sie aus, Wintrichs Beziehung mit Vera war ein willkommener Anlass.
    »Und vor drei Tagen passierte es wieder«, sagte Photini.
    »Obwohl Corinne gerade erst ihr Kind bekommen hat?«
    »Ja.«
    Klaus Bahling räusperte sich, seine Stimmbänder waren noch lädiert. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre der Dreckskerl jetzt tot.«
    Zahllose Fragen standen im Raum. Photini und Raupach gingen sie ansatzweise durch.
    Warum war Thorben zum Vergewaltiger an der eigenen Schwester geworden? Aufgrund von Demütigungen, Frustrationen? Sucht nach Über-Nähe, wie die Psychologen Inzestfälle einstuften?
    Warum hatte Vera weggeschaut? Sie musste doch etwas mitbekommen haben. Konnte nicht sein, was nicht sein durfte?
    Warum hatte Corinne geschwiegen?
    »Scham, Angst und Schuldgefühle«, meinte Photini.
    Antworten aus dem Handbuch des sexuellen Missbrauchs. Andere hatten sie nicht.
    Die Notoperation an Thorben Bahling verlief erfolgreich, er überlebte. Dass er keine Kinder zeugen konnte, hatte schon zuvor festgestanden. Bei der Gewebeanalyse hatte man eine nicht behandelte Hodenentzündung festgestellt. Thorben war schon seit langem unfruchtbar.
    Seinem Vater wäre das egal gewesen. Er hätte auf die gleiche Stelle eingeprügelt.
     
    STRENG GENOMMEN war es bloß eine weitere Aussage.
    Clausing versorgte sie mit Fakten. Er kam persönlich ins Präsidium und legte das Ergebnis von Kotisseks Obduktion im Konferenzraum der Mordkommission dar.
    Der Mann habe ein Thoraxtrauma erlitten, eine schwere Verletzung des Brustkorbs, daraufhin sei die Lunge kollabiert. So viel zur Todesursache.
    »Und was hat dazu geführt?«, fragte Heide.
    »Zunächst haben etliche Schläge und Tritte eine Rippenserienfraktur verursacht. Daran stirbt man nicht, wenn sich die gebrochenen Rippen nicht in die Lunge bohren. Allerdings wird der Brustkorb dadurch so instabil wie eine angeknackste Eierschale.«
    »Bleibt die Atmung normal?«
    »Hängt davon ab, wie stark sich der Thorax im Bereich der Rippenbrüche noch ausdehnen kann.« Clausing verschränkte die Finger beider Hände und demonstrierte es. »Bei zusätzlichem Druck von außen, etwa, wenn man sich auf jemanden draufwirft, kommt es zu einem Thoraxtrauma. Der Brustkorb wird zusammengequetscht, die Eierschale zerbricht.«
    »Thorben Bahling könnte also nachgeholfen haben?«
    »Eine Rippenserienfraktur lässt sich ertasten, ein Rettungsassistent sollte dazu in der Lage sein. Und allein mit Kotissek hinten im Krankenwagen, da hatte er Gelegenheit, den Rest zu erledigen.«
    »Warum das alles?« Heide wandte sich an Höttges. Er war mit den Befragungsteams aus Ehrenfeld zurückgekehrt, ohne einen Zeugen für Reintgens brutales Vorgehen gefunden zu haben.
    »Vielleicht hat der Tütentünn Thorben an der Stimme erkannt und ihn für den Mörder von Wintrich gehalten«, meinte der Anwärter. »Oder Thorben wollte nur auf Nummer sicher gehen. Er konnte ja nicht wissen, wie viel Kotissek in der Tatnacht mitgekriegt hat.«
    »Die Tatnacht.« Raupach blickte in die Runde. »Gehen wir’s noch mal durch.«
     
    PHOTINI FING AN. »Wintrich trifft sich mit Corinne in der Heckenrose. Sie hat die Tasche dabei, verbuddelt sie halb, ist völlig verzweifelt. Endlich erzählt sie, was Thorben ihr angetan hat, deckt das böse Geheimnis auf.«
    »Wie reagiert Wintrich?«, fragte Raupach.
    »Vielleicht schlägt er vor, mit ihr zur Polizei zu gehen. Aber erst am nächsten Tag. Bis dahin will er auf die Tasche aufpassen und im Gartenhäuschen übernachten. Corinne soll mit dem Taxi nach Hause fahren. Sie ruft Milan an.«
    »Höchste Zeit für Thorben einzugreifen«, fuhr Raupach fort. »Er ist Wintrich heimlich in die Heckenrose gefolgt, mit Nicolas im Schlepptau – was er nicht weiß, der Junge traut sich nur bis zum Nordpark. Thorben bringt Wintrich mit dem Spaten um und zwingt Corinne zu einem Deal: Er verrät nicht, dass sie ihr Kind getötet hat. Dafür muss Corinne ihn decken, wie