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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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irgendwelcher Geschäfte.« Tünn schlug die Beine übereinander, als säßen sie in teuren Ledersesseln, unter Sonnensegeln, über einer leuchtenden Bucht. »Was haben die bloß davon?«
    »Geld?«
    »Das hätt ich auch gern. Aber ich krieg schon die Krise, wenn ich einmal im Jahr mit der Bahn nach Düren fahr. Da wohnt meine Schwester.«
    »Was ist so schlimm daran?«
    »Es fängt schon mit dem Ticket an. Ich weiß nie, ob ich das richtige löse am Automaten, das macht mich ganz hibbelig. Und dann die Leute im Zug. Die schauen so seltsam, sogar wenn ich mich ein bisschen feingemacht hab mit meinen guten Klamotten.«
    »Ist doch nicht anders als hier.« Höttges wies auf die Bank und den Park. Die Schüler mit den Pommes hatten begonnen, Fußball zu spielen.
    »Du verstehst das nicht. Hier kann ich einfach aufstehen und weggehen. In der Bahn ist das schwierig.«
    »Den Platz wechseln?«
    »Das bringt mich durcheinander. Nach einem freien Sitz suchen. Vielleicht ist der reserviert? Da wird mir dann alles zu viel.«
    »Du reist also ungern. Na und?«
    »Schau dich doch um, Gerd! Die Leute reisen andauernd. Ich hab dann immer das Gefühl, dass ich jemandem den Platz wegnehme. Jemandem, der Wichtigeres zu tun hat und dringender irgendwohin muss. Nach Düren oder nach Australien, ist egal. Ich werd nirgendwo gebraucht. Und das wissen die Leute im Zug, die sehen mir das an.«
    »Kann es sein, dass du dir das nur einbildest?«
    »Alle Jubeljahre meine Schwester besuchen, das reicht mir. Ich bleib lieber hier in Köln. Ist doch groß genug, die Stadt. Keine überzogenen Ansprüche stellen, damit fährt sich’s gut im Leben.«
    »Wenn du meinst.«
    Tünn hatte eine Idee. »Lust auf ’nen Happen zu essen?«
    »Ich könnte was vertragen.« Höttges’ Magen knurrte wie ein verstimmter Kontrabass.
    »Dann gehen wir zu mir.« Er stand auf. »Ist gar nicht weit.«
    »Wo willst du hin?« Höttges fragte sich, ob er seinen Posten verlassen durfte.
    »In die Heckenrose.«
    »Wie?«
    »Die Kleingärten. Da wohn ich.« Tünn zwinkerte seinem neuen Freund zu. »Illegal, versteht sich. Man darf da nicht richtig wohnen. Hab mich stillschweigend bei einem Bekannten einquartiert, jetzt, wo’s kühler wird.«
    »Stört das deinen Bekannten nicht?«
    »Keine Ahnung. Der sitzt wieder mal im Knast.« Er entblößte zwei Reihen fleckiger Zähne. »Wir müssen nur an den Bullen vorbei. Hast du diesen Aufmarsch mitgekriegt? Mit Sack und Pack sind die hier angetanzt. Da ist was passiert.«
    »Was denn?«
    »Aus Ärger halt ich mich lieber raus. Nur nicht auffallen.«
    »Du weißt also was.«
    »Ich weiß immer was.«
     
    RAUPACH WAR ÜBERRASCHT, dass Höttges sich so früh meldete, per SMS. Der Mann war ein Phänomen. Gravitation. Man sollte den Naturgesetzen öfter ihren Lauf lassen.
    »Abwarten«, meinte Photini. »Manche Zeugen wollen sich nur wichtig machen.«
    Sie saßen in der Kantine und hatten ihre Mahlzeit gerade beendet: rechteckige Fischstücke, dreieckige Kartoffelpressteile, eine Schüssel mit gleichmäßig runden Erbsen wie aus dem Stanzwerk.
    »Der Koch versucht uns etwas zu sagen, mit angewandter Geometrie.« Heide hatte das meiste übriggelassen und ein Muster daraus gelegt. »Vielleicht will er den Polizisten eine kleine Neurose mit ins Wochenende geben. Seht auf eure Teller: Die Welt ist einfacher strukturiert, als Ihr denkt.«
    Raupach hatte keinen Sinn für das Geläster. Er stupste eine Erbse mit der Gabel hin und her, sie kullerte in die Fischsoße.
    Der Tote war ungefähr so alt wie er selbst, besaß die gleiche Statur, sah insgesamt bloß ein wenig ungepflegter, verschlissener aus. Raupach war vor einigen Jahren in eine berufliche Krise geraten. Wenn er damals nicht wieder Tritt gefasst hätte, nach einem dummen, unverzeihlichen Fehler, würde er sich heute nicht groß unterscheiden von so einem Mann. Da kommt man schnell ins Straucheln, schliddert in etwas hinein, ist plötzlich zur falschen Zeit am falschen Ort.
    Aber alle Vorsicht fahrenlassen und von hinten eins übergezogen bekommen? Selbst wenn Alkohol im Spiel war: Musste es da nicht um mehr gehen als um ein paar Joints? Oder war so ein jämmerliches Ende einfach nur schwer wahrzuhaben?
    Die Leiche lag inzwischen auf Clausings Seziertisch. Dort hatte der Tod gar nichts Jämmerliches. Nur etwas schrecklich Natürliches.
    Raupach tauschte sich mit seinen beiden engsten Mitarbeiterinnen über die weitere Vorgehensweise aus. Dann fuhr er wieder zum

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