Das geheime Kind
dauerte damals nur ein, zwei Monate. Wir verloren uns aus den Augen, ich war noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Vor zwei Jahren trafen wir uns dann durch Zufall auf dem Wochenmarkt. Wir gingen einen Kaffee trinken und danach ein wenig spazieren, da hat es wieder gefunkt.«
Das Reden verlieh Vera Bahling Sicherheit, es half ihr, die Kontrolle zu behalten, ihr, die sonst werdenden Müttern beistand und bei einer schwierigen Geburt Zuversicht und Kompetenz ausstrahlen musste.
»Vor einem Jahr zog Otto bei uns ein. Aber dann wurde er arbeitslos. Er ist Pharmavertreter, nach einer Auseinandersetzung mit seinem Chef flog er raus. Na ja, er trank schon zuvor gern mal einen über den Durst, und seither ist es immer mehr geworden, nicht nur Bier, auch harte Sachen. Wenn er zum Arbeitsamt ging, kam er dort selten nüchtern an, auf dem Rückweg war dann alles zu spät. Er blieb bei Pennertreffs hängen und spülte seinen Frust runter. Von sich aus sucht er sich keinen neuen Job, obwohl er es mir immer wieder verspricht. Manchmal verschwindet er tagelang, ich klappere dann die Bänke und Parks ab, um ihn irgendwo aufzulesen, sturzbetrunken. Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll.«
Sie war dazu übergegangen, so über Otto zu sprechen, als würde er noch leben. Bemerkte es und hielt betreten inne. »Wie muss das für Sie klingen? Sie fragen sich bestimmt, warum ich es mit einem Säufer aushalte. Ausgehalten habe.«
Raupach schwieg.
»Nein, Otto war … ein guter Mensch.« Ihre harten Gesichtszüge, die Furchen auf der Stirn und die Haut über den Wangenknochen, glätteten sich. »Er hat sich um Nicolas gekümmert wie ein Vater, hielt den Haushalt in Ordnung, kochte hin und wieder, als langjähriger Junggeselle hatte er darin Übung. Sogar unsere Beete im Hinterhof hat er dieses Jahr umgegraben und ein bisschen Gemüse angepflanzt – wenn er nicht gerade mit einer Flasche unterwegs war. Er machte sich nützlich und … er konnte sehr zärtlich sein. Trotz seiner Fehler war ich ihm nie lange böse. Kennen Sie solche Menschen? Denen man immer wieder verzeiht?«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte der Kommissar.
»Wer bringt so jemanden um? Im Nordpark? Was hatte er dort verloren?«
»Ich habe gehofft, Sie könnten mir sagen, warum er ausgerechnet dort war.«
Vera Bahling schaute auf ihre Armbanduhr. »Eigentlich muss ich gleich weg. Ins Krankenhaus.«
»Vielleicht findet sich eine Vertretung. Soll ich für Sie anrufen?«
»Das mach ich lieber selbst.« Sie nahm ein Handy aus der Hosentasche.
»Besaß Otto Wintrich hier einen persönlichen Bereich?«
»Ja, Corinnes altes Zimmer.«
»Dürfte ich mich dort umsehen?«
»Wird sich wohl nicht vermeiden lassen.« Mit forschen Schritten ging sie in den Wohnraum, dirigierte Raupach in den Gang und öffnete eine Tür neben Nicolas’ kleinem Reich. Ein misstrauischer Blick, was bei ihrem Jungen wohl vor sich ging. Dann tippte sie auf ihrem Handy herum.
»Nehmen Sie den Filter aus dem Tee«, sagte Raupach. »Sonst schmeckt er bitter.«
AUF DEM BODEN STAND EINE RITTERBURG, an der Decke hingen Raumschiffe. Photini kannte die Modelle von der Zeit, als sie eine Schwäche für Science-Fiction hatte. Damals im Polizeiarchiv war es die einzige Möglichkeit gewesen, ein paar Gedanken auf die Reise zu schicken – warum nicht in den Hyperraum?
Die »Millenium Falcon« aus Star Wars, »Kampfstern Galactica«, zahlreiche Star-Trek-Modelle. Nicolas schien ein eifriger Bastler zu sein. Die Bausätze waren sorgfältig zusammengesetzt. Hauchdünne, durchsichtige Schnüre hielten sie an Reißnägeln in der Schwebe. Die Zukunft – oder das, was Hollywood dafür hielt – über dem Kopf. Wenn abends das Licht gelöscht wurde, waren die Modelle immer noch da, verharrten im Orbit, warteten auf neue Missionen. Nicht die schlechtesten Träume für einen Jungen.
Der Bauanleitung folgen, warten, bis der Klebstoff getrocknet war, Schritt für Schritt vorgehen. Nicolas schien es gewohnt zu sein, eine Sache von Anfang bis Ende durchzuziehen. Hunderte von Teilen zusammensetzen, da musste man beharrlich sein, fokussiert, natürlich auch ein wenig in sich gekehrt, vor allem aber: präzise. Vielleicht wusste Nicolas etwas über Otto Wintrich, das anderen entgangen war.
Welche Weltraumserie er am besten fände, fragte Photini.
Das sei alles von früher, sagte Nicolas und wies auf die Modelle. Geschenke von Thorben, damit er etwas zu tun hatte. Kinderkram.
Sie saßen sich
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