Das geheime Kind
Bett.«
»Hast du geschlafen?«
»Mehr oder weniger.«
»Genauer.«
»Ich warte immer mit dem Schlafen. Ich liege wach. Dann überlege ich mir, was ich am nächsten Tag mit meinem Kollegen spiele.« Nicolas nickte, als sei das Gespräch endlich an dem gewünschten Punkt angelangt.
»Dein Kollege? Wer ist das?«
»Otto. Wir spielen Schach.«
»Otto war aber letzte Nacht nicht zu Hause.«
»Ja, das macht er öfters.«
»Wohin geht er?«, fragte Photini.
»Weiß ich nicht. Durch die Straßen. Wohin er will.«
»Und mit wem trifft er sich?«
Nicolas verschränkte wieder die Hände vor den Knien. »Das verrät er nicht.«
Photini beschloss, klare Verhältnisse zu schaffen, der Junge konnte es verkraften. »Weißt du, was Otto zugestoßen ist?«
DAS ZIMMER EINES MANNES, der nur noch wenige Besitztümer hat, ist ein trostloser Anblick. Raupach spürte, dass hier etwas fehlte. Beim Eintreten war ihm, als fiele die Temperatur um mehrere Grade. Abwesenheit war eine Kälte, gegen die kein Heizkörper ankam, vor allem, wenn sie endgültig war.
Die Reste eines Lebens. Otto Wintrich schien schon mit einem überschaubaren Bestand an Habseligkeiten bei seiner Freundin eingezogen zu sein. Aber selbst davon war wenig übriggeblieben, weil er das meiste in der »Zweiten Hand« verhökert hatte. Ein Radiowecker, Vitamintabletten, Kleidung, eine Obdachlosen-Zeitung, mehr nicht.
Der Blick aus dem Fenster war auch nicht besser. Das Mietshaus gegenüber glich dem der Familie Bahling aufs Haar, ein gesichtsloser, funktionaler Bunker, nur der Anstrich hatte eine etwas hellere Tönung. Keine erhebende Aussicht, so von einem Käfig zum anderen. Für einen Arbeitslosen, der nichts mit sich anzufangen wusste, musste es schwer zu ertragen gewesen sein.
Auf dem Boden standen mehrere Aktenordner. Sie enthielten die üblichen Unterlagen, Versicherungspolicen, Gehaltsabrechnungen, Kontoauszüge. Aus Letzteren ging hervor, dass Otto Wintrich nach allerlei regelmäßigen Abzügen über 1500 Euro übrig gehabt hatte, sein Arbeitslosengeld war recht üppig gewesen. Doch das Konto wurde in jedem Monat fast vollständig leergeräumt. Wenn man seine Verkäufe bei der Havemann hinzunahm, schien er eine Menge Geld ausgegeben zu haben. Wofür?
Das Bett, ein Metallgestell aus einem Billigmöbelladen, schien Wintrich von Vera Bahlings Tochter übernommen zu haben. Seltsame Vorstellung, ein erwachsener Mann in einem Mädchenbett. Fühlte man sich da nicht fehl am Platz? Und warum hatte er nicht bei Vera geschlafen? Wegen gelegentlicher Spannungen, oder war er einfach nur ein Schnarcher gewesen?
Raupach ging auf die Knie und schaute unter das Bett.
Ein Aktenkoffer. Schwarz.
Er zerrte das Ding hervor, wirbelte dabei kaum Staub auf. Legte es auf die Matratze und nahm es näher in Augenschein.
Der Koffer war aus echtem Leder, elegant, hochwertig verarbeitet, von oben zu öffnen. Und ziemlich geräumig. Eigentlich ein Fall für die Havemann, der brachte mindestens fünfzig Euro.
Zwei Zahlenschlösser, mit einer jeweils dreistelligen Kombination. Raupach hatte keine Lust, Effie zu benachrichtigen. Es musste auch so gehen. Er schob den Öffner des ersten Schlosses bis zum Anschlag und drehte ganz langsam an den Rädchen. Probierte aus, welches vielleicht ein bisschen schwerer ging als die anderen. Er stieß auf einen kaum merklichen Widerstand, das Rädchen blieb bei der Fünf stehen.
Mit den beiden anderen Rädchen war es nicht so einfach. Doch jetzt gab es nur noch neunundneunzig mögliche Stellungen. Raupach hatte geschickte Finger, das kam vom Malen. Er klickte die Kombinationen nacheinander durch. Bei 511 sprang der Verschluss auf.
Auch das zweite Schloss leistete wenig Widerstand. Raupach öffnete den Koffer. Und war nicht sonderlich überrascht.
Medikamente. In unzähligen Schachteln, bunt, farbenfroh, die Pharmaindustrie tat gern so, als stelle sie heilkräftige und mehr oder weniger unbedenkliche Bonbons her. Die meisten Präparate trugen den zusätzlichen Aufdruck Muster. Es sah aus wie ein Kaufladen.
Anscheinend ein Überbleibsel von Wintrichs früherem Job. Raupach versuchte festzustellen, gegen welche Krankheiten all diese Pillen helfen sollten. Von Halsweh bis Herzbeschwerden schien der Kofferinhalt jede erdenkliche Unpässlichkeit abzudecken.
Vielleicht gab es ein Register, in den Ziehharmonikafächern an der Seite.
»Das ist Ottos Musterkoffer.« Vera Bahling stand in der Tür und beobachtete den Kommissar – wie lange
Weitere Kostenlose Bücher