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Das geheime Leben des László Graf Dracula

Das geheime Leben des László Graf Dracula

Titel: Das geheime Leben des László Graf Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roderick Anscombe
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den Blickwinkel verändert, sieht alles anders aus. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mir selbst fremd zu sein.
    »Ich werde ihn gleich anbehalten«, verkündete ich.
    »Und der da?« fragte der Geschäftsführer. Er deutete unentschlossen auf den Anzug, den ich abgelegt hatte.
    »Ich bin sicher, Sie haben dafür eine passende Verwendung«, erwiderte ich mit großer Geste. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß das von mir erwartet wurde.
    Und dann inszenierte ich meinen Abgang. Ich war huldvoll, nobel, liebenswürdig und schnell. Der Geschäftsführer legte einen ziemlichen Eifer an den Tag, um mit mir Schritt zu halten, so daß ich ihn auf dem Weg durch den Laden nicht abzuhängen vermochte. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er nur bemüht war, an meiner Seite zu schreiten, oder ob er mich zu überholen versuchte, bevor ich die Tür erreicht hatte. Um jeden Eindruck von Ungehörigkeit zu vermeiden, blieb ich vor ein paar Hüten stehen.
    Er räusperte sich mehrmals, schien aber unfähig, die richtige Form zu finden, um bei einem Grafen das Geld einzutreiben. Seit die Franzosen ihre gesamte Aristokratie auf die Guillotine geschickt haben, sind sie die größten Snobs in Europa. Eine angemessene Strafe.
    Ich tat so, als hätte ich einen Entschluß gefaßt. »Vielleicht ein anderes Mal«, sagte ich, auf die Hüte zeigend, und ging wieder Richtung Tür.
    »Da wäre noch die Rechnung, Graf«, begann der Geschäftsführer mit einem schwachen Lächeln.
    »Aber ja«, erwiderte ich. Ich hatte angefangen, mir Lothar vorzustellen, und dieser Trick führte dazu, daß ich eine gewisse Sorglosigkeit an den Tag legte, die ich mir gar nicht zugetraut hätte. »Schreiben Sie alles auf meine Rechnung, wenn Sie so gut sein wollen. «
    »Natürlich«, sagte er mit unglücklicher Miene. »Aber ich frage mich...«
    »Ja?«
    »Ob es Ihnen vielleicht etwas ausmachen würde...«
    »Meine Redlichkeit unter Beweis zu stellen? Selbstverständlich.«
    »Nein!« Er war über seine eigene Unbesonnenheit entsetzt.
    »Aber natürlich.«
    »Nein, bitte, Graf!«
    »Aber ich bin doch für Sie ein völlig Fremder, und ich kann gut verstehen...«
    »Bitte, Graf, glauben Sie mir, daß ich das niemals in Frage stellen würde –
    niemals!«
    Ich beobachtete seine Qualen und fühlte ein neues Potential in mir wachsen.
    Ich seufzte wohlwollend. Er spürte Vergebung. »Was immer Sie für richtig halten«, sagte ich zu ihm, während er mich durch die Tür nach draußen schob.
    Jahrelang hatte ich mich an Regeln gehalten, an das, was Onkel Kálmán und die Jesuiten im St. Sebastian und die Schulmeister an der Universität mir befahlen. Ich habe mich brav an die Regeln gehalten, und ich bin nicht davon abgewichen. Jetzt beginne ich zu überlegen: Gibt es wirklich irgend jemand, der die Regel »Betreten des Rasens verboten«, die überall an den Wegen auf Schildern steht, durchsetzt? Und wenn es ihn gibt, kümmert er sich überhaupt um mich? Ich hatte kein Geld, und trotzdem hatte mir der Schneider einen wunderbaren neuen Anzug gemacht.
    Ich ging die kurze Strecke bis zur Rue de Rivoli im nachmittäglichen Sonnenschein und blieb am Bordstein stehen, bevor ich auf die andere Seite zu den Gärten der Tuilerien hinüberwechselte. Ich wollte den Augenblick genießen. Die Straße war zu dieser Stunde sehr belegt; manche Menschen gingen eilig ihren Geschäften nach, andere schlenderten müßig dahin. Unter ihnen fühlte ich mich wie ein Schmetterling, der sich aus seinem Kokon befreit; ich streckte meine Glieder, um den Sitz der prächtigen neuen Hülle zu fühlen, und spürte, wie ich anschwoll und Besitz von dieser neuen Verkörperung ergriff.
    Der Gedanke, Nicole wiederzusehen, erfüllte mich mit Erregung. Die Einladung war von ganz besonderer Art; sie hatte sich die Zeit genommen, selbst eine Nachricht an mich zu schreiben, und ich bezweifelte, daß sie diese Gunst vielen anderen Menschen zuteil werden ließ. Und sie hatte auch auf das Gedicht angespielt, das ich für sie geschrieben hatte. Sie konnte nicht wissen, wie erniedrigend es für mich gewesen war, mich ihr auf eine derart entwürdigende Weise offenbart zu haben. Jede Poesie kam mir damals kraftlos vor, denn Zärtlichkeit bedeutete Schwäche. Nach dem Vorfall mit dem Dornenzweig hatte ich mein Werk vernichtet, hatte das Blatt Papier in winzige Stücke zerrissen und diese vom Schloßturm verstreut, hatte zugesehen, wie sie nach unten schwebten, sich in der Luft drehten und wendeten und im Schloßgraben

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