Das geheime Leben des László Graf Dracula
nach Ungarn zurückfahren, und danach soll ich das Amt des neuen Grafen bekleiden.
Onkel Kálmán sitzt mir gegenüber, seine stocksteife Haltung hält dem Schwanken des Zuges stand. Ab und zu rollen mir gedankenverlorene Tränen über die Wangen, während ich in die Landschaft starre, die hinter dem Fenster unseres Abteils vorbeifliegt. Aber dann werde ich wieder von der Absurdität der Rettung überwältigt, die das Schicksal ersonnen hat, und ich breche in ein wahnsinniges, unkontrollierbares Gelächter aus. Der rauhe alte Soldat ist von dieser Zurschaustellung von Gefühlen peinlich berührt und zieht sich mit lautem Räuspern und viel Blätterrascheln hinter seine Zeitung zurück. Er glaubt, ich wäre über den Tod meines Bruders bekümmert.
8
17.MAI 1887
wanzig Jahre sind vergangen, seit ich diese letzten Worte geschrieben habe.
Z Seit jener Zeit blieb das Tagebuch an seinem geheimen Platz in der Bibliothek zwischen der Sammlung theologischer Abhandlungen, die meinem Großvater gehört haben, verborgen auf einem Bücherregal und ungeöffnet. Es hat Augenblicke gegeben, in denen ich die Versuchung gespürt habe, meine Finger in die Vertiefung zwischen den Fächern zu stecken und wieder das weiche Leder zu fühlen und das leise Knistern der festen, weißen Seiten zu hören, die nur für die ungeheuerlichsten Gedanken dazusein scheinen. Ich bin sogar so weit gegangen, die Leiter auf der Messingschiene bis zu der Stelle zu ziehen, hinter der das Tagebuch lag, eine oder zwei Stufen hinaufzusteigen und
– unschlüssig in der Schwebe verharrend – anzuhalten, bevor ich wieder auf den sicheren Boden zurückkehrte.
Das Tagebuch ist wie eine Sucht. Ich habe mir überlegt, daß das Verlangen mit der Zeit von allein vergehen wird, wenn ich es ignoriere und das Buch nicht lese. Wenn ich aber daran kratze, wenn ich meinen nostalgischen Bedürfnissen nachgebe, werde ich mich nur auf Kosten eines weiteren und noch größeren Bedürfnisses, zu kratzen, zufriedenstellen können; nicht lange, und das Jucken wird immer stärker werden und das quälende, nagende Verlangen nach Berührung hervorbringen, das zur Obsession wird und schließlich zur flüchtigen, aber wollüstigen Erfüllung führt. Am Ende wird Sehnsucht zurückbleiben.
Heute gab ich Brod nach dem Mittagessen die Anweisung, dafür zu sorgen, daß ich nicht gestört werde, und setzte mich hin, um zum erstenmal wieder darin zu lesen. Insgeheim hatte ich gehofft festzustellen, daß der junge Mann, der das Tagebuch begonnen hatte, tot wäre, aber das ist er nicht. Sicher, der junge László war ein Narr, Stacia und Lothar haben ihn mit lächerlicher Leichtigkeit manipuliert. Vielleicht hat Nicole das auch getan, ich weiß es nicht. Aber ich habe die Neugier oder Lebenslust des jungen László nicht verloren, auch wenn ich die vergangenen zwanzig Jahre eine Art mönchisches Dasein geführt habe, um diese Eigenschaften auszulöschen. Ich habe mehr oder weniger versucht, mich umzubringen, ohne tatsächlich zu sterben. Leider ist keiner der beiden Lászlós besonders mutig darin gewesen, »zu tun, was sich gehört«, wie Georg gesagt haben würde.
Und ganz gewiß habe ich Georgs Frau auch nicht aus Bosheit geheiratet. Ich neige dazu, diese Heirat als eine Art Buße anzusehen, auch wenn die Vereinigung von rein dynastischen Erwägungen bestimmt war. Georgs Ehe mit Elisabeth war von Onkel Kálmán jahrelang geplant und in die Wege geleitet worden. Elisabeth ist die einzige Tochter eines unserer Nachbarn und eine entfernte Verwandte von uns, und sie hat als Mitgift wesentliche Landstücke eingebracht, die an unsere angrenzen. Im Testament ihres Vaters wurde vertraglich festgelegt, daß seine gesamten Ländereien ihr am Ende folgen würden, solange unsere Familien zusammenbleiben. Als ich von Paris auf das Schloß zurückkehrte, befand ich mich in schrecklicher Verfassung, lebte ständig in der Angst, jeden Augenblick wegen Stacias Tod zur Rechenschaft gezogen zu werden, und war überzeugt, meiner neuen Stellung als Graf absolut nicht würdig zu sein. So brachte ich es nicht über mich, mich zu widersetzen, als Onkel Kálmán das Thema auf seine gewohnt schroffe Art schon bald nach Georgs Beerdigung zur Sprache brachte.
Es ist gewiß, daß ich eine so gute Frau wie Elisabeth nicht verdiene. Kein Mann tut das. Sie ist eine Heilige. Sie ist großzügig, ergeben und freundlich. Sie erkennt sofort, was an einem Mann gut sein könnte, und sei es auch nur ein einziges
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