Das geheime Lied: Roman (German Edition)
anstimmt, verfallen die Eingeborenen ihrem Zauber und werden zu Marionetten des Usurpators.«
»Seine Priesterin?«, flüsterte Matthieu.
»Diese Frau verkörpert den uralten Mythos der Insel: Sie ist die Mondesstimme. Man sagt, ihre Stimmbänder seien die Saiten, die die Natur anschlägt, und dass ihre Melodie die älteste aller Zeiten sei.«
Matthieu konnte kaum noch an sich halten. Newton hatte recht behalten! Es gab also noch Hoffnung für seine Eltern und Onkel Charpentier! Er hätte sich so gerne von den Emotionen mitreißen lassen und seinen Begleitern enthüllt, dass sie hier die Melodie der Seele in greifbarer Nähe hatten, den so gesuchten Schlüssel zu einer neuen Alchemie, sagte aber nichts. Es war entscheidend, dass Pierre die Geschichte der Melodie auch weiterhin für einen Mythos des alten Afrikas hielt und La Bouche die Angelegenheit als eine der vielen Hirngespinste des Sonnenkönigs einschätzte, der einfach zu viel Fantasie hatte; als den Wunsch nach einem weiteren Objekt, das dann in seinem Kuriositätenkabinett in Versailles vor sich hin stauben würde.
»Wie konnte jemand wie sie diesem Wilden in die Hände fallen?«, fragte Matthieu.
»Sie gehört zu den Hüterinnen der Stimme, und dieser Klan braucht ein starkes Königreich, das ihn beschützt. Die junge Luna hatte keine andere Wahl.«
»Luna?«
»So heißt die Priesterin.«
»Was weißt du sonst noch über diese Frauen?«, drängte ihn La Bouche.
»Nach ihrer Geburt übergeben sie alle männlichen Säuglinge an Familien aus Nachbardörfern und behalten nur die Mädchen. Und unter ihnen kommt von Zeit zu Zeit eine Mondesstimme zur Welt. Erkennen kann man sie an ihrem Weinen, wenn sie den Bauch einer Hüterin verlässt. Von diesem Moment an widmen sich alle anderen in Körper und Geist nur noch einer Aufgabe: Sie sind dafür verantwortlich, dass dieses Kind kein anderes Lied zu Ohren bekommt als die heilige Melodie.«
»Und so wird sie ohne äußere Einflüsse weitergegeben …«, folgerte Matthieu fasziniert.
»Genau so, wie sie zu Beginn der Zeiten zum ersten Mal ertönte«, schloss Pierre. »Ich habe vor einiger Zeit an einer ihrer Zeremonien teilgenommen.«
»Du hast sie singen hören?«, rief der Musiker aufgeregt aus.
»Schon vor Jahren, vor meiner Reise ins Innere der Insel. Es war ein Ritual zur Anrufung des Gottes Zanahary. Ambovombe, der damals schon Umsturzpläne schmiedete, bediente sich zu diesem Zeitpunkt bereits des Zaubers der Priesterin, um allen seine immer größere Macht zu beweisen. Ich weiß noch, dass die Oberhäupter verschiedener Stämme sich an einem Strand nahe Fort Dauphin versammelt hatten, um dort Zebus zu opfern. Das Blut war noch nicht getrocknet, als Luna erschien. Stellt euch die Szene nur vor: Vier Krieger trugen sie auf einem riesigen Schild aus geflochtenen Palmwedeln heran … Sie war fast noch ein Kind, ihre Schönheit betörte aber trotzdem alle. Wie eine Göttin stand sie stolz aufgerichtet auf dem rot verfärbten Sand und verbarg ihren nackten Körper unter Pelzen aus Lemurenschwänzen. Eine Frau aus ihrem Klan begleitete sie auf dem Schild und umfasste schützend ihren Kopf, damit sie keinen fremden Laut vernahm.« Pierre verstummte kurz. »Ich schwöre euch, als sie sich aufrichtete und zu singen begann, hielten die Wellen inne, und der Wind verstummte.«
Er schwieg kurz, als wolle er dieser Magie seine Ehre erweisen. Matthieu sah ihn unverwandt an.
»Hast du gerade gesagt, dass eine der Hüterinnen der Stimme ihr die Ohren zuhielt?«
»Ja.«
Der Musiker wandte sich zu La Bouche um. Er musste ihm die Unterhaltung, die sie nach ihrer Begegnung mit Misson an Bord geführt hatten, nicht erst in Erinnerung rufen. Die Eingeborene an Deck der Victoire hatte sich beim Gesang des Griot ebenfalls die Ohren zugehalten!
»Diese Frau war nicht die Priesterin«, dämpfte La Bouche seinen Enthusiasmus.
»Was ist denn?«, fragte Pierre.
»Nichts, erzähl weiter.«
Aber der Arzt fuhr mit seiner Geschichte nicht fort. Er musterte sein Gegenüber, vielleicht war ihm das große Interesse des Kapitäns an diesem Klan der Frauen aufgefallen.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du eigentlich zurückgekehrt bist«, bemerkte er schließlich. »Offensichtlich ja nicht, um mich zu suchen …«
»Ich muss eine Mission erfüllen.«
»Hier? Was für eine Mission denn?«
»Matthieu ist die Mission. Das ist alles recht kompliziert …«
»Und wirst du es mir nicht erklären?«
Der Kapitän
Weitere Kostenlose Bücher