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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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einer Ohnmacht, die mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte. Oder vielleicht sogar schon viel früher? Ein riesiger Baobab, der zweihundert Jahre alt war. Wie jung! Matthieu fühlte sich so unbedeutend, dass es ihm lächerlich vorkam, überhaupt noch vor irgendetwas Angst zu haben. Warum hatte er sich bloß so lange wie ein Schwächling verhalten? Er, der doch in der Lage war, den Puls der Insel zu vernehmen … Er presste das Ohr an den Boden und spürte, noch viel tiefer, den Herzschlag jenes riesigen Planeten, der dennoch so klein war, dass ihn ein Musiker mit seiner Geige über der Schulter auf einem Schiff umrunden konnte. Er hatte das Gefühl, dass er Jean-Claude berührte, wenn er über die Rinde des Baobabs strich, und auch seine Mutter, das Dienstmädchen Marie. Was geschieht bloß mit mir?, fragte er sich. Habe ich etwa von weitem die Melodie der Seele vernommen und spüre jetzt schon ihren Einfluss? Mit Anbruch des Tages verflog unter den Anrufungen der Geister der roten Erde jedenfalls all seine Beklemmung, und er träumte, dass er sich in Saint-Louis neben dem Blasebalg der Orgel wiegte.

12
    M atthieu …«
    Er erschrak. Es war La Bouche, der seinen Namen rief. Der junge Mann hatte das Gefühl, dass kaum eine Minute verstrichen war, die Sonne stand jedoch bereits hoch am Himmel. Pierre und der Offizier der Patrouille standen beim Kapitän. Inzwischen schienen sich alle beruhigt zu haben. Der Arzt erklärte ihnen, wie sie das Dorf des Usurpators erreichen konnten, das in zwei Tagesmärschen Entfernung in einem Kaktushain errichtet worden war.
    »Ambovombes Krieger werden unsere Soldaten niemals an ihren Weiler herankommen lassen«, warnte sie Pierre. »Und ich muss euch wohl nicht sagen, dass wir sehr wenige sind, um uns ihnen entgegenzustellen.«
    »Wir wollen ja auch nicht kämpfen.«
    »Uns wird wohl kaum Zeit bleiben, ihnen das zu erklären.«
    Matthieu war gerade erst aus seinem zu kurzen Schlaf erwacht, aber trotzdem arbeitete sein Verstand schneller und besser als je zuvor.
    »Daher werden nur wir drei gehen«, erklärte er mit überzeugender Selbstsicherheit.
    Alle wandten sich zu ihm um.
    »Was sagst du da?«, entgegnete der Offizier.
    »Nur der Kapitän, Pierre und ich.«
    Nur sie drei … La Bouche entging nicht, dass sich Matthieus Blick, seine Art zu sprechen und selbst seine Körperhaltung verändert hatten.
    »Woran denkst du?«, erkundigte er sich.
    »Auf diese Weise werden sie sich nicht bedroht fühlen. Unterwürfiger können wir uns kaum zeigen.« Er stand auf. »Sollen wir diesem König denn nicht untertänig begegnen?«
    »Glaubst du wirklich, dass du ohne unsere Unterstützung so weit kommen wirst?«, hielt ihm der Offizier vor.
    »Um mit der Stirn den Boden zu berühren, brauchen wir keine Soldatenschwadron.«
    Alle schwiegen.
    »So wird es gemacht!«, verkündete La Bouche schließlich mit lauter Stimme.
    »Wie bitte?«
    »Verstärkt eure Position im Fort und wartet auf unsere Rückkehr!«, ordnete der Kapitän an.
    »Ich kann diesem Befehl nicht Folge leisten!«
    »Wir werden innerhalb des vorgesehenen Zeitraums zurück sein.«
    »Habe ich mich etwa nicht klar ausgedrückt?«
    Einige Sekunden lang schwiegen beide Männer. Der Offizier schlug jetzt einen Tonfall an, der zwar durchaus herausfordernd klang, aber vor allem seine Besorgnis deutlich machte.
    »Und wenn sich die Dinge nicht so entwickeln, wie Ihr erwartet?«
    La Bouche atmete geräuschvoll ein. Er dachte an die letzte Schlacht in Fort Dauphin, an das Feuer, das Blut seiner Männer, das Feuer, das Feuer … Er stieß die ganze Luft mit einem Mal wieder aus.
    »Was auch passiert, lasst Euch bloß nicht einfallen, uns zu folgen. Auf gar keinen Fall! Wenn ihr bis zur Rückkehr der Aventure nichts von uns gehört habt, dann fahrt nach Frankreich zurück und berichtet Minister Louvois von den Vorkommnissen hier.«
    Matthieu atmete zufrieden durch und stellte sich hoch aufgerichtet dem prüfenden Blick des Offiziers. Er zog die Möglichkeit zu scheitern nicht einmal in Erwägung.
    Die Soldaten wünschten ihnen Glück. Der Lehmgreis betrachtete sie von einem Felsen herunter aus den Augenwinkeln und war beim nächsten Wimpernschlag verschwunden. Pierre rieb die Hand über die Erde und fuhr sich damit durchs Gesicht, so dass der Staub rote Streifen hinterließ. Der Junge, der die Sitar gespielt hatte, lief einem Seevogel hinterher. Jetzt wirkte er nur noch wie ein Kind, nicht mehr wie ein Gott. Die drei Franzosen verließen die

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