Das geheime Lied: Roman (German Edition)
zögerte einen Moment, beschloss dann aber, seinem alten Freund reinen Wein einzuschenken. Inzwischen war ihm nämlich in den Sinn gekommen, dass Pierre ihnen als Dolmetscher dienen konnte. Ihn schickte wirklich der Himmel.
»Matthieu soll die Melodie der Priesterin aufschreiben.«
Als Pierre diese Worte vernahm, wurde sein Gesichtsausdruck noch ernster.
»Ich fasse es nicht …«
»Ich weiß nicht, warum dich das so überrascht. Du kennst die exzentrischen Ideen unseres Herrschers doch so gut wie ich.«
»Das hätte ich mir ja denken können …«
»Was murmelst du da vor dich hin?«
»Du musstest auf diese Insel zurückkehren, um das Heiligste zu besudeln, was sie besitzt … Reicht es König Louis denn noch nicht, seine Ländereien in Übersee auszubeuten?«
»Pierre …«
»Du hast recht«, lenkte er schließlich ein, »warum sollten wir uns wegen einer Mission streiten, die ohnehin nicht ausgeführt werden kann? Diese Frau lebt in Ambovombes uneinnehmbarem Dorf. Ihr könntet euch ihr nicht einmal nähern.«
»Außer Ambovombe lädt uns selbst in dieses Dorf ein.«
»Was zum Teufel redest du denn da?«
»Unser Herrscher hat uns aufgetragen, dem neuen König der Anosy unsere Aufwartung zu machen und ein Klima des Vertrauens zu schaffen, damit Matthieu die Melodie transkribieren kann.«
Pierre schwieg. Schließlich stand er auf und ging ein paarmal auf und ab.
»Frankreich macht einem Mörder seine Aufwartung …«, knurrte er schließlich. »Eine Delegation …«
»Angeführt von einem Musiker, der für ihn die schönsten Melodien europäischer Komponisten spielen wird. Gäbe es eine bessere Art, die Bestie zu besänftigen? Ist das nicht eine glänzende Idee?«
Vor dem Baobab wirbelte der Wind Staub auf.
Der Arzt wirkte verstört. La Bouche gab ein übertriebenes Seufzen von sich und stand auf.
»Komm her«, sagte er.
Er legte Pierre den Arm um die Schultern und führte ihn ein wenig abseits. Matthieu fiel wieder ein, dass La Bouche es nach ihrem Streit zu Beginn der Reise, noch vor dem Halt auf Gorée, mit ihm genauso gemacht hatte. Er betrachtete die beiden Männer, die sich langsam vom Feuer entfernten. Zunächst wollte er ihnen eine gewisse Intimität lassen, dann aber änderte er seine Meinung und ging ohne jede Bedenken zu ihnen hinüber.
»Ich brauche dich, Pierre, du musst mich begleiten«, beschwor La Bouche den Arzt gerade.
Dieser dachte, er hätte nicht recht gehört.
»Was?«
»Ich bitte dich um Hilfe, zwing mich nicht, mich aufs Betteln zu verlegen. Meinen eigentlichen Dolmetscher habe ich bei Missons erster Breitseite verloren.«
»Erst erzählst du mir, dass du diesen Mörder aufsuchen willst, und jetzt soll ich auch noch an der Expedition teilnehmen …«
»Es ist doch nicht meine Schuld, dass er es ist, der über diese Insel herrscht!«, unterbrach ihn La Bouche.
»Du solltest dich schämen! Wir reden hier von dem Mann, der mein Volk ausgerottet hat!«, schrie Pierre erschrocken.
»Verdammt noch mal, du bist Franzose! Hör auf, so zu reden, als hätte dich ein Negerweib geboren!«
Pierre machte ein paar Schritte rückwärts. Sein Gesichtsausdruck zeugte von großer Traurigkeit.
»Wo ist nur der Kapitän früherer Zeiten geblieben, der Held all der Geschichten am Lagerfeuer?«
La Bouches Stimme wurde sanfter.
»Du wirst genug Zeit haben, um dich von dem alten Mann zu verabschieden.«
»Als ich von meiner Reise zurückkehrte und sah, was Ambovombe getan hatte, da versprach ich, ihn nie wieder allein zu lassen.«
Bislang hatte Matthieu sich aus der Unterhaltung herausgehalten, beschloss jetzt aber, sich einzumischen.
»Der alte König hat ihm schließlich das Leben gerettet«, warf er ein.
»Und Pierre hat die verwundeten Anosy geheilt!«, erzürnte sich La Bouche. »Das Leben der Krieger, die noch am Tag zuvor meine Männer massakriert hatten! Hat er seine Schuld damit nicht zur Genüge beglichen?«
»Er lebt seit zehn Jahren auf dieser Insel! Warum könnt Ihr ihn jetzt nicht einfach in Frieden lassen?«
»Aber was zum Teufel ist denn mit dir los?«, brüllte ihn der Kapitän nun an. »Siehst du denn nicht, dass ich für deine verfluchte Mission Himmel und Erde in Bewegung setze? Ich brauche einen Dolmetscher!«
»Wir hätten auch dann weitergemacht, wenn wir Pierre hier nicht begegnet wären!«
La Bouche zog sein Schwert aus der Scheide und fuchtelte wütend damit herum, während er auf Matthieu und den Arzt zuging.
»Jetzt hört schon mit dem Gejammer auf!
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