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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Scheide.
    Pierre atmete tief durch und nahm wieder einen feierlichen Tonfall an.
    »Ich war immer davon überzeugt, du würdest früher oder später zur Mondinsel zurückkehren. Als die Anosy mir gesagt haben, dass auf der Insel Fremde gesichtet wurden …«
    Die Anosy … Er sprach von ihnen, als gehöre er zu ihrem Stamm. La Bouche sah einen Moment lang ihr Oberhaupt an. Vielleicht stimmte es ja, dass sich die Dinge geändert hatten. In den Augen des Alten flackerte kein Feuer mehr, und selbst seine Eckzähne wirkten stumpf. Der Kapitän war völlig durcheinander. Obwohl Pierre ihn bat, sich durch die Anwesenheit der Eingeborenen nicht stören zu lassen, überkamen ihn wieder die Bilder jener schrecklichen Szenen, die er eigentlich seit zwei Jahrfünften in den hintersten Winkel seiner Erinnerung verbannt hatte: eine Myriade von Flößen, die die Fortune umringen, brennende Pfeile in den Segeln, das Blut seiner Männer, das die Mauern der Festung tränkt.
    Pierre zog ihn in Richtung Lagerfeuer mit sich. Er wollte sich ihn einmal genau anschauen.
    »Diejenigen, die es bis zum Schiff zurück geschafft hatten, mussten sofort auslaufen …«, entschuldigte sich der Kapitän wieder und zeigte diesmal nicht seine übliche Arroganz. »Ich hätte mich davon überzeugen sollen, dass keine Überlebenden an Land zurückbleiben, aber ich hatte mit den wenigen Besatzungsmitgliedern, die sich noch auf den Beinen hielten, ja kaum das Schiff unter Kontrolle.«
    »Ich mache dir deshalb keine Vorwürfe«, stellte Pierre klar. »Ich konnte es selbst kaum glauben, als ich Stunden nach dem Angriff wieder aufwachte. Auf mir lag ein toter Krieger, und sein Beil steckte …« Er zeigte auf seinen rechten Unterarm, über den eine riesige Narbe verlief. »Ich muss mir wohl den Kopf gestoßen haben, als wir stürzten, hatte aber noch Zeit, um ihn aus nächster Nähe zu erschießen. Ich habe keine Ahnung, wie ich eigentlich atmen konnte, während ich ohne Bewusstsein war. Dieser Teufel wog so viel wie ein Ochse!«, rief er aus und lachte, als er merkte, dass ihm das Sprechen schwerfiel. »Mein Gott, ich habe Schwierigkeiten mit meiner eigenen Muttersprache!«
    Da den Soldaten inzwischen klar war, dass sie heute Abend wohl nicht mehr kämpfen mussten, verteilten sie sich über das Areal, behielten dabei allerdings jede Bewegung der Anosy im Auge. Matthieu fand, dass nun der geeignete Moment gekommen war, um näher zu treten. Der Kapitän stellte ihn vor, und die drei Männer setzten sich gemeinsam ans Feuer. La Bouche konnte es immer noch nicht begreifen. Sein Freund benahm sich, als seien diese Eingeborenen seine Familie. Der Kapitän warf einen kühlen Blick zu den Kriegern hinüber, die schüchtern hinter den Felsen hervorschauten. Der Lehmgreis hatte sich ebenfalls an Pierres Seite niedergelassen. Ein wenig abseits schlug das Kind noch immer die Saiten der Sitar an und brachte so unerwartete, eindringliche Melodien hervor, die sich aneinanderschmiegten wie ein Chamäleon an einen Ast, von einem zum nächsten schwirrten wie die von Pausen durchzogene Aufregung des Libellenflugs.
    »Diese Schlacht, von der Ihr sprecht …«, signalisierte Matthieu sein Interesse.
    »Die Nacht, in der Fort Dauphin fiel«, erklärte Pierre ganz ungezwungen.
    »Das war ein tragischer Tag«, erinnerte sich der Kapitän. »Wir kehrten von Bengalen zurück und hatten hier einen Zwischenhalt geplant, um später Paris über den Stand der Dinge auf der Insel informieren zu können. Als wir gerade den Anker werfen wollten, erblickten wir etwa hundert Anosy, die sich anschickten, die Festung zu stürmen.«
    »Was habt Ihr getan?«
    »Wir haben zum Gefecht klargemacht und alle Boote an Bord zu Wasser gelassen, um unseren Landsleuten zu Hilfe zu eilen. In weniger als einer Stunde konnten wir den Angriff aufhalten und sogar einen Rückzug erzwingen. Und genau darin lag das Problem. Nach einem so bequemen Sieg hatte niemand damit gerechnet, dass die Anosy noch in derselben Nacht erneut offensiv werden würden.«
    »Die Hälfte unserer Männer war betrunken«, entsann sich Pierre.
    »Sie kamen von allen Seiten, Hunderte von ihnen, und von diesem Augenblick an …« So gerne La Bouche die Geschehnisse auch schildern wollte, in Gegenwart des früheren Anosy-Herrschers fiel ihm jedes Wort schwer. »Von diesem Moment an gab es nur noch Schreie des Entsetzens, verstümmelte Gliedmaßen und französisches Blut, das den Sand tränkte.«
    Einige Sekunden lang war in der

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