Das geheime Lied: Roman (German Edition)
versichern, ich lechze danach, meiner Muttersprache zu lauschen.«
»Unser Musiker lebt in einer völlig anderen Welt«, bemerkte La Bouche.
Matthieu warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu.
»Mit etwas Interessanterem als deiner Geschichte kann ich wohl kaum dienen.«
»Im Ernst, du siehst mich an, als wäre ich ein Gespenst«, lachte der Arzt. »Vielleicht bin ich das ja wirklich und weiß es nur nicht.«
Pierre und La Bouche plauderten weiter darüber, wie sich die Dinge in Frankreich nach dem kürzlichen Tod Colberts verändert hatten, dessen Nachfolge der Marquis de Louvois angetreten hatte. Dann drehte sich das Gespräch um gemeinsame alte Bekannte und frühere Heldentaten. Dabei kam auch der verrückte Gilbert zur Sprache, der alte Haudegen, der die bekannte Sopranistin Virginie du Rouge geehelicht hatte. Matthieu hörte schweigend zu und ließ sich vom Knistern der Flammen mitreißen, die in nur wenigen Augenblicken zum Leben erwachten und erstarben. Sie veränderten vor seinen Augen die Form so wie diese Insel aus roter Erde und schwarzem Stein, auf der alles ein einziges fantastisches und vor Lebensenergie überschäumendes Wesen zu nähren schien.
Ein Wesen, das sie nicht aus den Augen ließ.
Und das auf den richtigen Moment wartete.
11
D as roséfarbene Leuchten am Horizont überraschte sie beim Gespräch über die Epidemie, die bei ihrer Überquerung des Golfs von Aden ausgebrochen war. Pierre dachte daran voller Mitleid mit den Todesopfern, aber auch voller Wehmut. Jeder Moment seines Lebens an Bord, selbst in härtesten Zeiten, erschien ihm nun episch.
»Seeschlachten hatten damals ihren eigenen Ehrenkodex«, erklärte er Matthieu zu La Bouches Genugtuung. »Die Offiziere waren echte Gentlemen und respektierten einander.
Das Gesicht des Arztes wurde ernst. La Bouche wusste, dass nun der richtige Moment gekommen war.
»Warum erzählst du uns nicht, was hier vorgefallen ist?«
Pierre seufzte und klang gequält, als er weitersprach.
»Wie gesagt lebte ich zwei Jahre lang im Schutze des alten Königs und wurde wie ein Familienmitglied behandelt. Es stimmt zwar, dass er jeden blutig bekämpfte, der versuchte, die Insel einzunehmen, das wissen wir ja besser als jeder andere, aber er lebte nicht für den Krieg. Bis er damals das erste Schiff der Ostindienkompanie versenkte, hatte er den Süden Madagaskars in einer fast idyllischen Regierungsform geleitet, basierend auf dem gegenseitigen Respekt der einzelnen Klane untereinander. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein wahrer Feind sein eigen Fleisch und Blut sein würde …«
»Wir haben vom Usurpator gehört.«
»Die Nachricht von Ambovombes Tat hat sich also bis nach Paris herumgesprochen?«, wunderte sich Pierre.
»Wir wissen, dass er alle Klane unterworfen hat.«
Der Arzt bedachte den alten König und die anderen Anosy, die in Grüppchen unter den Ästen des Baobabs schliefen, mit einem mitleidvollen Blick.
»Ambovombe hatte begriffen, dass er alle Anhänger seines Vaters vernichten musste, wenn er die Macht an sich reißen wollte. Stellt euch bloß vor, welcher Anblick sich mir bot, als ich von meiner Reise aus dem Inland zurückkehrte. Ich war in einem Paradies aufgebrochen und kehrte zu absoluter Zerstörung zurück, zu den Folgen einer Barbarei, die die Grenzen der Menschlichkeit weit überschritten hatte. Das herrschaftliche Dorf des Königs war niedergerissen worden, und vom Stamm waren nur noch die wenigen über, die ihr hier seht, die Einzigen, die entkommen konnten. Der Thronräuber hatte weder Frauen noch Kindern gegenüber Gnade gezeigt, seine Krieger waren mit den aufgespießten Körpern Neugeborener auf ihren Lanzen davonstolziert …«
Ihm versagte die Stimme, und er saß einige Sekunden mit hängendem Kopf da.
»Wie konnten die Oberhäupter der anderen Klane dieses Massaker bloß zulassen?«, fragte Matthieu. »Wenn sie sich vereint hätten …«
»Auf dieser Insel genügt es nicht, die Menschen auf deiner Seite zu haben. Damit dein Wort Gesetz wird, musst du einen Bund mit den Geistern eingehen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Als Ambovombe sich gegen seinen Vater auflehnte, hatte er vorher schon den Willen seiner Gegner gebrochen, und zwar nicht nur durch die Angst, die seine Kriegerhorden verbreiten. Seine mächtigste Waffe entstammt dem Jenseits.«
»Aber was redest du denn da?«, unterbrach ihn La Bouche.
»Ambovombe erreicht alles, was er will, durch den Gesang seiner Priesterin. Wenn sie ihr Lied
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