Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Baobab-Grube nur das plötzlich keuchende Atmen des Kapitäns zu vernehmen.
»Am nächsten Tag«, übernahm jetzt Pierre, »betraten die Frauen des Stammes das Schlachtfeld, um die Toten zu durchsuchen und zu plündern. Sie bemerkten, dass ich noch am Leben war.«
»Du hattest Glück, dass sie nicht in diesem Moment kurzen Prozess mit dir gemacht haben …«
»Wenn der König nicht gewesen wäre«, fuhr der Arzt fort und warf dem Lehmgreis einen liebevollen Blick zu, »dann hätten sie mich dort auf der Stelle erschlagen. Eine bessere Warnung für alle Schiffe, die es in Zukunft wagen würden, sich der Insel zu nähern, konnte es doch gar nicht geben! Ich erwartete auch nichts anderes, also begann ich, die Wunde an meinem Arm zu versorgen, um mich abzulenken. Dabei ignorierte ich die Schneiden ihrer Äxte und die Blicke, die mich durchbohrten. Ich dachte wirklich, es wären meine letzten Handgriffe, also beschloss ich, sie so sorgfältig wie möglich auszuführen«, lachte er. »Vorsichtig kauterisierte ich die Haut mit meinem eigenen Pulver, ging dann bis zum Wasser und legte einen Algenverband an, so wie ich es in Indien gesehen hatte, und …«
»Und?«
»Und ohne es geplant zu haben, hatte ich damit den Anosy-König davon überzeugt, dass ich ihm lebendig mehr brachte als tot. Er bat mich, meine Fertigkeiten zu nutzen, um seine verletzten Untertanen zu heilen.«
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du wirklich mit ihnen zusammengelebt hast.«
»Zunächst hielt ich es für eine Wiedergeburt in der Hölle. Bald aber wurde mir klar …«
Er verstummte.
»Was wolltest du sagen?«
»Die Anosy haben nur ihr Land verteidigt, Kapitän. Sie beschützten lediglich ihre Frauen und Kinder, ihre Traditionen.«
Er nahm einen Schluck Wasser aus einer länglichen getrockneten Frucht, die er bei sich trug. Dieser französische Arzt faszinierte Matthieu, denn ihn umgab trotz der äußeren Umstände eine Aura von Glück und Zufriedenheit und sogar Stolz auf diejenigen, die ihn doch einst zu töten versucht hatten.
»Wenn ich ehrlich sein soll«, sprach Pierre weiter, »klammerte ich mich zunächst an die Idee, dass König Louis eine Flotte schicken würde, um hier alles dem Erdboden gleichzumachen. Ich setzte mich auf die Steine des Forts, den Blick auf den Horizont geheftet, und wartete. Aber die Tage vergingen und dann die Monate, und schließlich verlor ich die Hoffnung, je wieder nach Frankreich zurückzukehren. Das Gute war«, unterstrich er und blickte dabei La Bouche an, »dass meine wissenschaftliche Neugier wieder erwachte. Ich fragte mich, was wohl jenseits der Wüstenlandschaft hier an der Küste alles zu entdecken war.«
»Verdammter Biologe …«, knurrte der Kapitän endlich ein wenig entspannter. »Du hattest immer schon mehr für Tiere als für Menschen übrig.«
»Eines schönen Tages etwa zwei Jahre nach der Schlacht«, erzählte Pierre nun weiter, »erhob ich mich morgens von meinem Lager und war fest entschlossen, endlich die Reise ins Innere der Insel zu unternehmen. Das war die klügste Entscheidung meines Lebens! Ich durchquerte feuchte Urwälder, deren Bäume kein Sonnenlicht durchließen, und bestieg ein Gebirge höher als die Alpen. Bei jedem Schritt erstaunte mich der Reichtum dieses Eilands aufs Neue … Meine Reise dauerte fast sieben Jahre.«
»Sieben Jahre!«, rief Matthieu aus.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich im Inland alles gesehen habe«, sprach der Arzt leidenschaftlich weiter. »Was wissen denn schon die naiven Zoologen der Académie royale des sciences oder die Botaniker, die in Versailles ihre Herbarien anlegen? Madagaskar ist ein in sich geschlossenes Paradies, eine Arche Noah mitten im Ozean. Ich lebte hier unter Säugetieren mit langen Schwänzen, die sich für Menschen halten und mit hoch erhobenen Armen tanzen, ich bin umgeben von Pflanzen, die bluten, und Insekten, die größer sind als meine Hand. Und seht euch doch nur diesen Baobab an: Die Anosy erzählen, dass ihr Gott eines Tages voller Wut den Baum dort ausriss, wo er vorher gestanden hatte, und ihn mit aller Kraft fortschleuderte, so dass er nun kopfüber in der Erde steckt und seine unansehnlichen Wurzeln in den Himmel reckt. Auf dieser magischen Insel ist alles möglich.«
»Ich bewundere deine Leidenschaft«, bemerkte Matthieu so ungezwungen, als würden sie sich schon lange kennen.
»Warum erzählst du mir nicht etwas über dich?«, schlug Pierre unerwartet vor. »Denn eines kann ich dir
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