Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Ihr werdet euch meinen Befehlen beugen, ob es euch nun passt oder nicht!«
Sein Kinn zitterte, die wuterfüllten Augen schienen fast aus ihren Höhlen zu treten. Matthieu und Pierre starrten ihn ungläubig an. Der Kapitän bereute augenblicklich, sich so aufgeführt zu haben.
»Wir sind gerade erst hier eingetroffen, und schon verliere ich die Nerven …«, murmelte er entschuldigend.
Er ließ das Schwert fallen.
»Ich denke, wir müssen alle ein wenig ausruhen«, gab Matthieu jetzt gelassener zu bedenken.
Pierre schlug die Hände vors Gesicht und ließ sich auf die Knie fallen. Eine Heerschar schlafender Gedanken erwachte mit einem Mal und suchte in seinem ungeübten Hirn nach einem Platz. Er flog über den Ozean und erreichte schließlich Paris. Schon seit Jahren hatte er sich diese Vorstellung verwehrt. Er dachte an all das, was er zur wissenschaftlichen Gemeinschaft beitragen konnte, wenn er lebend nach Frankreich zurückkehrte, an das Vergnügen, neben dem Brunnen von Notre-Dame den gepflasterten Gehsteig entlangzuspazieren. Vor allem aber dachte er an seine Familie. Seit zehn Jahren hielt man ihn für tot. Sie hatten es verdient, ihn noch einmal in die Arme schließen zu dürfen.
Er ließ sich zu Boden sinken und rollte sich zusammen. Das Lagerfeuer verglühte langsam. Gedämpft vom feinen Nebel am Horizont, erhellten die ersten Sonnenstrahlen die Krone des Baobabs. Der Wind bewegte die dünnen Zweige, der Stamm schien zu stöhnen. Er war lebendig, vielleicht weinte er sogar.
Matthieu konnte es nicht ertragen, Pierre so zu sehen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er sich auf diesen unbarmherzigen Seemann gestürzt, aber es stimmte ja tatsächlich – auch wenn Matthieu seine Methoden nicht immer guthieß, hatte La Bouche stets für seine Sicherheit gesorgt. Der Musiker schluckte seinen Stolz hinunter und legte sich im Schutz des Baobabs nieder. Er schloss die Augen und schwor insgeheim, sich in Zukunft besser unter Kontrolle zu haben. Von nun an wollte er sich auf das beschränken, was man in Paris von ihm erwartete. Er durfte seine Aufgabe nicht einen Moment lang vergessen. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Er war doch nach Madagaskar gekommen, um Luna zu finden und ihre Melodie niederzuschreiben, die heilige Melodie der Seele, die Melodie der Seele, der Seele …
Auf einmal ereilte ihn wieder der Ruf des von Newton verfassten Manuskripts in seiner Tasche. Es schrie geradezu danach, gelesen zu werden. »Jetzt ist der Moment gekommen«, sagte er sich. Er kramte zwischen den leeren Notenblättern herum und faltete das Papier hastig auseinander. Er war ein wenig enttäuscht, als er entdeckte, dass es sich nur um wenige Sätze handelte, die man mitten auf das Blatt geschrieben hatte:
Sonne, deine Strahlen berühren mich nicht.
Blinzle in die Dunkelheit wie zum Anbeginn.
Und ich, dein Mond, vergieße Tränen über der Frucht.
Was bist du ohne mein Liebkosen?
Und was kann ich tun, außer zu schreien,
wenn du erlischst?
Eine Weile sann er über mögliche Deutungen der Rätselschrift nach, aber alle Auslegungen, die ihm in den Sinn kamen, erschienen ihm zu weit hergeholt. Wie hatte Charpentier bloß glauben können, dass er mit dem Erreichen der Insel schon die tiefere Bedeutung dieser Zeilen erfassen würde? Er schob das Pergament zurück in die Tasche. Dann fuhr er mit der Hand über den glatten Stamm des Baumes. Vom Boden aus wirkte dieser noch riesiger. Er ist bestimmt zweihundert Jahre alt, dachte der junge Mann. Er war erschöpft. Inzwischen war der Tag vollends angebrochen. Matthieu musste sich unbedingt ein wenig ausruhen, denn sie würden sich bald auf den Weg machen …
Von der Gruppe der Anosy her erklangen Anrufungen ihrer Ahnen, die sie mit einem Blick gen Himmel vor sich hin murmelten. Während ihre monotone Litanei ihn durch das Labyrinth zwischen Wachen und Traum führte, glaubte Matthieu, eine tiefe Stimme zu vernehmen, die dem Inneren des Baumes entstammte: »Kein Baobab ist wirklich alt im Vergleich zur Erde, zu der er gehört …« Matthieu schlug die Augen auf. War er etwa eingeschlafen? Er hatte schwören können, die Worte wirklich gehört zu haben. Besaß denn auf dieser Insel alles eine Melodie oder Stimme? Er sah sich nach Pierre und La Bouche um. Die beiden hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Auch die Anosy verharrten weiter an ihrem Platz, aber irgendetwas hatte sich verändert. Es kam ihm vor, als sei er aus einer langen Ohnmacht erwacht … aus
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