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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Klarheit der Aussage besonderen Nachdruck zu verleihen.
    Misson blieb stehen.
    »Was für ein Musiker?«
    »Er ist der Neffe von Marc-Antoine Charpentier, einem der angesehensten Komponisten Frankreichs«, verkündete La Bouche, als wäre es sein Verdienst, Matthieu hierhergebracht zu haben.
    »Und er selbst komponiert auch«, erklärte Caraccioli.
    Der Ausdruck auf Missons Gesicht veränderte sich.
    »Stimmt das?«
    »Stellt mich doch auf die Probe«, bot Matthieu an.
    »Lasst uns allein«, forderte Misson die anderen auf. »Könntest du diese beiden Männer zu einem der leeren Häuser begleiten?«, bat er den Italiener. »Ich dachte da an die Unterkünfte neben dem Lager. Morgen können sie dann in Timothys Hütte umziehen, wenn die Familie seiner Frau bis dahin ihre Sachen ausgeräumt hat.«
    La Bouche hätte vor Wut am liebsten laut geschrien. Er konnte kaum mit ansehen, wie der junge Musiker Misson gegenüber die Rolle einnahm, die eigentlich ihm zustand, er durfte aber nicht schon bei der ersten Gelegenheit die Beherrschung verlieren.
    Matthieu folgte dem Piraten. Als sie das Haus betraten, schaute er sich darin diskret um in der Hoffnung, die Priesterin zu entdecken.
    »Ich hole dir etwas zu trinken«, gab sich Misson als guter Gastgeber. »Nimm Platz, wo du möchtest.«
    Er verschwand in einem Kämmerchen, in dem sich eine Feuerstelle und Töpfe zum Kochen befanden.
    Matthieu schaute sich den Hauptraum in Ruhe an. Es gab dort mehrere Regale mit den verschiedensten Gegenständen, von denen einige Reiseandenken waren und andere von Beutezügen stammten, von Angriffen auf die reichsten Schiffe Abessiniens, Arabiens, Siams … Es handelte sich nicht um luxuriöse Stücke – Misson gab die wertvollsten an die Männer weiter, die sich bei Enterungen besonders heldenhaft gezeigt hatten –, es war eher eine Sammlung einzigartiger Fetische, die der Vorstellungskraft dieser kaum bekannten Kulturen entstammten. Der Geiger ging zum Fenster und betrachtete nachdenklich die Leichen der Gehenkten.
    Misson trat neben ihn.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals so einen Befehl erteilen würde«, murmelte er bedauernd.
    »Wie der Wächter erklärt hat, mit dem wir gesprochen haben, handelte es sich bei den Männern doch um Eidbrecher. Und außerdem …«
    Matthieu verstummte.
    »Ich weiß schon, was du denkst. Du fragst dich, warum so etwas an mir nagt, wenn doch meinetwegen auf Hunderten von Schiffen Blut vergossen wurde.«
    »Das wundert mich tatsächlich.«
    »Alle anderen sind in der Schlacht gefallen. Aber diese beiden … Wenn ich menschlich wäre, hätte ich Gnade walten lassen.«
    »Seid Ihr das denn nicht?«
    »Ich träume davon, es nicht zu sein. Libertalia ist durch mich entstanden und wird nur durch mich aufrechterhalten. Es gibt Tage, an denen ich schon am Morgen die Last der Verantwortung nicht mehr ertrage und mich nur noch danach sehne, dass endlich die Nacht hereinbricht, alles für einige Stunden oder zumindest Minuten nicht mehr existiert … Es würde mir schon reichen, wenn diese Bürde wenigstens einen Augenaufschlag lang verschwände. Und du, wovon träumst du?«
    »Seit ich in Madagaskar angekommen bin, weiß ich längst nicht mehr so genau, ob ich eigentlich wach bin oder träume«, antwortete der Musiker, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.
    »Ist das überhaupt wichtig?«, fragte der Kapitän. »Wie sagte jener Dramaturg doch gleich … Wir sind vom gleichen Stoff, aus dem Träume sind!«
    Matthieu konnte kaum fassen, dass er diese Unterhaltung mit dem Piraten führte. Mit der Behauptung, Missons Stimme könne jeden unwiderruflich in seinen Bann ziehen, hatte La Bouche wirklich nicht übertrieben. Aber warum dann dieses Auftreten? Diese Verletzlichkeit und all das Leid passten nicht zur übermenschlichen Stärke und Arroganz, die man ihm zuschrieb. Es war Misson fünfundzwanzig Jahre lang gelungen, über Hunderte von Piraten und befreiten Sklaven zu herrschen. Seine Republik mochte auf den ersten Blick zwar idyllisch wirken, kennzeichnend war für sie jedoch das harte Leben an Bord der Schiffe, auf denen die Männer die meiste Zeit verbrachten, die Skrupellosigkeit der Seeräuber, die sich dieselben Frauen zu Geliebten nahmen, die sie zuvor bei Enterungen vergewaltigt hatten, die Verstümmelungen in der Schlacht, die Fiebererkrankungen, die in der Regenzeit im Schlamm lauerten, und der gedämpfte, aber niemals erloschene Hass einiger Bewohner der Kolonie gegen Kameraden aus verfeindeten

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