Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Toten.
»Ich muss mich wieder vermählen!«, kreischte sie unter Tränen, und die anderen nickten.
Die Eingeborene küsste einen nach dem anderen, auch die Neuankömmlinge.
Caraccioli sprach einen der Seemänner mit leiser Stimme an.
»Seid ihr auch nach den Regeln vorgegangen? Wurde ihr ein Teil von Timothys Beute angeboten?«
»Sie hat eine Hand voll Münzen zu Boden geschleudert und Misson gefragt, ob dieser glänzende Unrat ihr das Leben ihres Mannes zurückgeben kann.«
»Das habe ich mir schon gedacht …«
»Und warum sagt sie dann, dass sie wieder heiraten muss?«, mischte Matthieu sich ein.
»Sie will den Bund mit ihrem Mann erneuern«, erklärte Caraccioli. »Die Eingeborenen sehen in der Ehe die Vereinigung zweier Seelen, die von nun an nur einem einzigen Weg folgen können.«
Matthieu dachte an Luna. Seit er sie gesehen hatte, fühlte auch er sich, als würde ihm allein etwas fehlen. In diesem Moment griff die Eingeborene mit beiden Händen nach dem Bajonett, das dem Offizier gehört hatte, und rammte es sich in die Brust. Sie fiel auf die Knie. Blut quoll hervor und bedeckte ihre dunklen Arme. Pierre und La Bouche wirkten nicht überrascht, Matthieu hingegen konnte nicht fassen, was da vor seinen Augen geschah. Caraccioli packte ihn und hielt ihn fest, damit er nicht auf die Frau zulief und ihr die Klinge aus der Brust zog.
»Schau dir ihr Gesicht an«, flüsterte er ihm ins Ohr. Ein friedlicher Ausdruck von Glückseligkeit breitete sich auf den Zügen der Frau aus. »Sie muss sich mit ihm im Tod vereinen. Ihrem Glauben nach wird sie sonst ein Leben im Unheil führen.«
Die Totenstille, die sich auf dem Bananenfeld ausgebreitet hatte, dünkte Matthieu unerträglich.
»Niemand darf so gestraft werden …«
»Für sie ist es ein Privileg. Nur den Frauen aus den ältesten Familien wird die Ehre zuteil, ihre Ehemänner über den Tod hinaus begleiten zu dürfen. Wenn sie nicht selbst den Mut dazu aufgebracht hätte, hätten die Frauen ihres Stammes sie ins Meer geworfen, um die Tradition zu erfüllen. Obwohl ihre Seele in diesem Fall keine Ruhe gefunden hätte, bis nicht der letzte Fisch gestorben wäre, der von ihrem Fleisch gefressen hat.«
Der Musiker schloss die Augen. Er fand es von Minute zu Minute unglaublicher, dass dieser Schmelztiegel aus Menschen und Kulturen schon seit fünfundzwanzig Jahren existierte. Als er die Lider wieder aufschlug, starrte er Caraccioli durchdringend an.
»Wie könnt Ihr so etwas nur zulassen?«
Der Italiener antwortete mit einer Gegenfrage:
»Soll ich mich etwa zwischen Gott und eines seiner Geschöpfe stellen? Dazu hat niemand das Recht! Was glaubst du denn, warum ich die Maske der Soutane abgelegt habe?«
Die Eingeborenen säuberten den Leichnam der Frau und legten ihn vorsichtig auf den Blumenteppich im Grab. Als alles vorbei war, näherte sich Misson, der während der ganzen Zeremonie hoch aufgerichtet und unnahbar dagestanden hatte, den Neuankömmlingen.
»Mein lieber Freund Caraccioli …«
»Timothy war ein guter Mann.«
Sie umarmten sich. Danach begrüßte der Pirat La Bouche.
»Ich hatte darauf vertraut, dass Ihr herkommen würdet, auch wenn es offensichtlich nicht der beste Moment ist …« Er warf einen letzten Blick auf die Eingeborene, die nun zusammengerollt in Timothys Schoß ruhte. »Oder vielleicht doch, es kommt ganz darauf an, wie man die Sache betrachtet. Und ihr beide?«, wandte er sich an Matthieu und Pierre.
»Lasst uns nicht hier darüber reden«, unterbrach ihn Caraccioli. »Gehen wir lieber ins Haus.«
»Ja«, nickte der Kapitän mit einer müden Grimasse. »Kommt mit zu mir.«
17
A uf dem Rückweg erzählte La Bouche dem Piraten die Geschichte, die sie sich zurechtgelegt hatten. Während Misson der Erzählung des Kapitäns lauschte, hatte es nicht den Anschein, als zweifele er an seinen Worten. Dann berichtete Pierre von seinem Leben bei den Anosy und seinen Reisen im Inland Madagaskars, verschwieg dabei aber, was seit Ambovombes Überfall auf das Dorf des alten Königs geschehen war. Misson war begeistert von der Aussicht, einen erfahrenen Arzt in der Kolonie zu haben.
»Und du?«, fragte er Matthieu schließlich.
Ihn hatte er sich bis zuletzt aufgehoben. Vermutlich weil Caracciolis Gesichtsausdruck ihm verriet, dass sich hinter dem durchdringenden Blick des jungen Mannes eine Überraschung verbergen würde.
»Ich bin Musiker«, antwortete dieser und fügte absichtlich nichts weiter hinzu, um seinen Worten durch die
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