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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Überzeugungen ein, die der Franzose, wie er selbst betonte, gemeinsam mit Caraccioli ausgearbeitet hatte, respektierte dabei aber auch die einheimischen Traditionen und taufte die Insel auf den Namen Libertalia. Damals bestand seine gesamte Flotte nur aus zwei Schiffen, deren Besatzungen unterstützten ihn jedoch bedingungslos, denn die Männer hatte nun zum ersten Mal in ihrem Leben einen Platz, an den sie nach jeder Fahrt zurückkehren konnten, einen Rückzugsort, der mit der Zeit zu ihrer wahren Heimat wurde, in der sie gerne friedlich alt werden und sterben wollten.
    »Kommt mit«, forderte Caraccioli sie auf, nachdem sie von Bord gegangen waren. »Wir suchen den Kapitän.«
    Matthieu, La Bouche, Pierre und der Griot folgten dem Priester. Der Musiker hatte sich die Piratenrepublik ganz anders vorgestellt. In seiner Fantasie waren die lehmigen Straßen mit den Münzen aus Raubzügen gepflastert gewesen, und der Rum war in Strömen geflossen, die Wirklichkeit hatte damit jedoch nichts zu tun. Jenseits des Rauchs aus den Kanonen, die die Salven abgefeuert hatten, bot sich ihm der Anblick sauberer Straßen, auf denen die Bürger Libertalias – die meisten der Bewohnerinnen waren Eingeborene – ganz normalen Tätigkeiten nachgingen. Die Männer gehörten allen nur erdenklichen Rassen und Nationen an. Die Frauen malten sich genau wie die Anosy die Gesichter mit einer Paste aus gemahlener Baumrinde und Wasser an, allerdings herrschten hier durch den früheren Einfluss arabischer Seefahrer Spiralmotive vor. Misson war in seiner Kolonie gelungen, was europäische Herrscher in ihrem Reich nicht zustande brachten: seinen Samen unter der lokalen Bevölkerung zu verbreiten und so eine gemischte Rasse zu erschaffen, die die Wildheit der Eingeborenen mit dem seltsam gelassenen Lebenswandel der Korsaren verband.
    »Wie ihr seht«, erklärte Caraccioli mit einer gewissen Melancholie, »sind die Hälfte unserer Männer ehemalige Gefangene, die unter einer einzigen Bedingung freigelassen wurden, nämlich der, dem Kapitän ewige Treue zu schwören.« Er verstummte kurz. »Es gab eine Zeit, in der wir noch an die Ewigkeit glaubten.«
    Das war ein vielsagender Kommentar, Matthieu fragte im Moment aber lieber nicht nach und wartete stattdessen ab, wie sich die Dinge entwickelten. Mit jedem Schritt erschien ihm dieser Ort mehr und mehr wie ein Pulverfass. Es gab Piraten jeder Größe und Statur, Zebus, Eingeborenenfrauen, Mulatten, freigelassene Sklaven mit scheuem Blick, Stahl, den Geruch nach Pulver und verwestem Fisch und ringsherum üppigen Urwald, aus dem die Rauchsäulen der Eingeborenenräte aufstiegen.
    Caraccioli entschuldigte sich und betrat ein langgestrecktes Gebäude, aus dessen Fenster ein Sudanese mit blauschwarz schimmernder Haut hinaussah.
    »Der Griot bleibt hier«, ordnete er an, als er wieder herauskam.
    »Kann er nicht mit uns kommen?«, bat Matthieu.
    »Wir brauchen Afrikaner wie ihn, die gebildet sind und gut Französisch sprechen, um die befreiten Sklaven zu unterrichten, damit sie sich so bald wie möglich allein zurechtfinden«, erklärte der Piratenpriester. »Sie zeigen sich zugänglicher, wenn ihr Lehrmeister einer von ihnen ist. Hier wird man ihn auf seine Aufgabe vorbereiten.«
    »Mach dir um mich keine Sorgen«, beruhigte ihn der Griot.
    »Ich werde bald vorbeischauen, um zu hören, wie es dir geht«, versprach Matthieu dennoch.
    Sie verließen nun die Straßen in Hafennähe und näherten sich dem Haus, in dem Misson wohnte. Wie auf Libertalia üblich hatte man auch dieses Gebäude im Stil der Eingeborenen errichtet: Es handelte sich um eine auf Pfählen über dem Erdboden schwebende Hütte aus Raphiafasern. Die Spitzen der hölzernen Säulen schauten aus dem Dach hervor, und die Außenwände waren mit rituellen Masken verziert. Am Eingang thronte eine geschnitzte Totemfigur mit geometrischen Formen. Es war niemand zu sehen. Während Caraccioli auf der Suche nach dem Kapitän hineinging, nutzte Matthieu die Gelegenheit, um sich ein wenig umzusehen. Er hielt auf einen offenen Platz hinter dem Haus zu, als er plötzlich auf einen Baum mit roten Blüten stieß, in dem zwei Erhängte baumelten.
    Der Anblick der Körper, die sanft hin und her schaukelten, hatte auf ihn eine kurze, aber durchschlagende Wirkung, als hätte ihn eine Kugel an der Schläfe getroffen. Er vernahm das unheimliche Knarzen der gespannten Seile im Wind und sah sich einen schaurigen Moment lang in Ambovombes Dorf zurückversetzt, wo er

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