Das geheime Lied: Roman (German Edition)
die gepfählten Hüterinnen der Stimme entdeckt hatte.
»Was ist hier vorgefallen?«, fragte Caraccioli, der kurz darauf mit den anderen herbeitrat.
Ein Mann, der neben einem Viehzaun am Boden hockte, stand rasch auf und kam zu ihnen herüber.
»Signore! Ihr seid zurück!«
»Was hat das hier zu bedeuten?«
»Das sind die beiden Männer aus Portugal, die …«
»Ich weiß schon, wer das ist«, unterbrach der Priester den Mann. Er hatte die beiden portugiesischen Offiziere erkannt, die bei einem der meistkommentierten Angriffe der letzten Zeit mit dem Leben davongekommen waren. Über die Enterung wurde wegen der fetten Beute gesprochen, aber auch wegen der vielen Toten, die es auf Missons Seite gegeben hatte, bis er das fremde Schiff endlich unter seine Kontrolle bringen konnte. »Ich dachte, man hätte beschlossen, sie gehen zu lassen, um sie für ihren Mut zu belohnen.«
»Und so wurde es auch getan, Signore, man schenkte ihnen die Freiheit in dem Moment, in dem sie schworen, dass sie diese Meere nie wieder befahren würden. Aber sobald sie einen Fuß auf den Kontinent gesetzt hatten, sind sie mit fünf Hochseeschiffen aufgebrochen, um Libertalia zu suchen. Sie haben tatsächlich den Weg hierher zurückgefunden und wollten die Tatsache nutzen, dass fast unsere ganze Flotte unterwegs war, um die Republik zu zerstören.«
»Verfluchte Schwachköpfe …«
»Die Batterien im Hafen haben den Angriff problemlos abgewehrt.«
»Und dann hat der Kapitän ihren Tod befohlen?« Caraccioli verbarg sein Erstaunen nicht. »Bist du sicher, dass er angeordnet hat, sie aufzuknüpfen?«
Der Matrose nickte bestimmt.
»Er hat uns sogar eingeschärft, sie dort hängen zu lassen, bis der Gestank unerträglich wird.«
Das runde Gesicht des Priesters nahm einen enttäuschten Ausdruck an.
»Wo ist Misson jetzt?«
»Auf dem Friedhof.«
»Das hat uns gerade noch gefehlt … Wen hat es erwischt?«
»Den Offizier, der bei der Abwehr des portugiesischen Angriffs das Kommando hatte. Er war schwer verletzt und hat es schließlich nicht …«
»Der Name, sag mir seinen Namen!«
»Timothy, der Engländer.«
»Teufel auch, Timothy … Und seine Frau?«
»Ihr wisst doch, welches Schicksal ihr bevorsteht. Immerhin stammt sie aus einem alten Eingeborenengeschlecht …«
»Verflucht … Ist das Ritual bereits vollzogen?«
Der Seemann zuckte mit den Achseln. Caraccioli warf Matthieu und den anderen einen raschen Blick zu, ohne ihnen aber irgendeine Erklärung zu geben. Zu Fuß legten sie etwa eine Viertelmeile bis zum Friedhof zurück, der neben einem überschwemmten Bananenfeld lag. Auf dem Gottesacker verteilt wie ein weiteres Element der Landschaft, schmückten die verschiedensten Gedenksteine die Gräber – mit glatter Platte oder eingravierten Worten und Symbolen lagen einige davon flach auf dem Boden, andere waren senkrecht aufgestellt worden, darunter verschiedene Kreuze und Statuen. Matthieu vernahm ein Murmeln. Sie schoben Blätter zur Seite und traten näher, um eine Gruppe Menschen zu erblicken, die sich um ein offenes Grab versammelt hatte. Es war bis obenhin mit Blumen gefüllt, die den Toten beinahe verdeckten. Die Trauergemeinde setzte sich aus weißen, schwarzen und asiatischen Piraten zusammen, außerdem war auch eine große Gruppe eingeborener Männer und Frauen erschienen, die aufmerksam Kapitän Missons Worten lauschte. Seine Rede klang weniger wie die Segnung bei einer religiösen Beerdigung, sondern vielmehr wie der Abschied von einem Blutsbruder.
Da ist er, dachte Matthieu. Der gleiche schlanke Korsar mit den eintätowierten Blutstränen auf Hals und Gesicht, der sie auf See angegriffen hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er ihnen wie ein Held aus alter Zeit vom Bug der Victoire aus die Stirn geboten. Nun stand er jedoch untröstlich und nur allzu menschlich mit einer Hand voll Samen da.
»Ihr wisst, was diese Erde uns gelehrt hat«, beendete er seine Predigt mit den tröstenden Worten eines einheimischen Sprichwortes: »Wenn sich die Äste im Wald streiten, umarmen sich die Wurzeln.«
Er warf die Samen in das Grab.
Wenn sich die Äste streiten, umarmen sich die Wurzeln … Matthieu wollte gerne glauben, dass das Leid der Seinen ebenfalls zu irgendetwas gut sein würde. Misson bemerkte ihn und blickte ihn erstaunt an. Dann sah er auch die anderen. Caraccioli grüßte mit einer knappen Kopfbewegung.
In diesem Moment stieß eine der Eingeborenen einen untröstlichen Schrei aus. Es war die Ehefrau des
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