Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Nationen. Wie Misson selbst angedeutet hatte, konnte das Gewicht einer solchen Gemeinschaft wirklich nur auf den Schultern eines wahren Anführers ruhen, eines unbeugsamen Mannes, der von seinen Ansichten fest überzeugt war. Warum kommen Euch denn jetzt bloß diese Zweifel?, fragte sich Matthieu in Gedanken.
Sie setzten sich auf hölzernen Stühlen an einen Tisch, auf dem zwei Schalen mit Kakao dampften.
Misson überlegte kurz, was er als Nächstes sagen sollte. Matthieu wollte zu gern wissen, wozu der Korsar ihn denn so dringend brauchte, wollte das Thema aber nicht direkt ansprechen. Er betrachtete wieder die rechte Gesichtshälfte des Piraten. Warum er wohl Blut weinte? Er hatte an Bord der Victoire die halbe Welt umreist, daher gab es viele Möglichkeiten, woher die Tätowierung stammen konnte. In einigen Regionen Asiens benutzte man solchen Körperschmuck, um seine Feinde einzuschüchtern, die Nubier wollten damit Krankheiten fernhalten, in Mittelamerika erinnerten die Zeichnungen an frühere Siege, und in Nordafrika schützte man damit seine Seele. Vermutlich stammten die roten Tränen aus dieser Region …
»Sicher ist nur eines«, fuhr der Kapitän nun wieder in gequältem Tonfall fort, »nämlich dass niemand außer Gott Macht über das Leben eines Menschen hat, und dennoch habe ich mein Dasein mit Töten verbracht.«
Matthieu nahm einen Schluck Kakao.
»Jetzt sprecht Ihr von Gott, auf dem Friedhof habe ich jedoch keine einzige Bibel gesehen.«
»Ich habe mein Leben dem Meer gewidmet und wollte durch eine Welt ohne Grenzen die erhabenen Wahrheiten finden, die die Kirche vor uns verborgen hält. Wenn du das Leben hier in der Kolonie durchstehst, werde ich dir zeigen, dass eine Existenz ohne Credos und Katechesen nicht im Gegensatz zu einem unerschütterlichen Glauben an die Existenz Gottes stehen muss.«
Dem jungen Mann, der in Frankreich im strengen Korsett der schließlich durch das Edikt von Nantes widerrufenen religiösen Dogmen aufgewachsen war, erschienen diese Worte wie eine frische Brise.
»In Europa nennt man das Deismus«, erklärte er ohne jede Besserwisserei. Er dachte an die Diskussionen über dieses Thema, an denen Charpentier im Haus von Mademoiselle de Guise teilgenommen hatte.
»Wen interessiert schon, wie man es nennt? Das Wichtigste ist Gottes Wort, das man nicht in den heiligen Schriften findet, sondern im Universum und in der Natur.« Misson sah Matthieu in die Augen. »Warum kann es dann nicht auch in der Musik zum Ausdruck kommen?«
In der Musik …
Matthieu war wie erstarrt. Misson konnte doch unmöglich etwas über das alchemistische Geheimnis wissen, das sich hinter Lunas Lied verbarg. Sicher meinte er vielmehr die Macht, die der Gesang über die Eingeborenen hatte. Der Korsarenherrscher spürte, dass das Ende Libertalias nahte, und wollte durch die Wirkung der Melodie das verlorene Zusammengehörigkeitsgefühl der ersten Jahre wieder aufleben lassen.
»Musik ist Gottes Liebe in ihrer reinsten Form«, murmelte Matthieu auf einmal und wiederholte damit die Worte, die ihm Onkel Charpentier an seinem fünften Geburtstag zugeflüstert hatte.
Der Pirat sah ihn ein paar Sekunden geradezu bewundernd an.
»Stell dir vor, wie schwierig es ist, so lange eine Republik aufrechtzuerhalten, in der Geld keinen Wert hat und deren Grundstücke nicht umzäunt sind«, sagte er vertraulich und öffnete sich dem jungen Mann nun vollständig. »In diesem Tempel ohne Wände bin ich die einzige Stütze! Ich bin derjenige, der den Pfad für die anderen ebnet! Für die befreiten Gefangenen und die Frauen der Seeleute bin ich ihre Familie! Ich bin ihr Gedächtnis, alles, was sie an Geschichte haben! Manchmal weiß ich einfach nicht mehr, was ich noch sagen soll, welches Wort verhindern wird, dass mein Universum auseinanderbricht und sich als eine Million verlorener Sterne zerstreut.« Misson trank aus seiner Schale. Matthieu wartete ab, ohne etwas zu entgegnen. »An Bord meiner Schiffe stellen weiße Männer die Hälfte der Besatzung, schwarze die andere Hälfte, ich habe niemals Beute für mich selbst zurückgehalten, und wie du auf dem Friedhof sehen konntest, akzeptieren wir jede Art von Glauben oder Religion … Aber ich kann mich seit langer Zeit nicht des beunruhigenden Gefühls erwehren, dass in meinem Reich etwas Grundlegendes fehlt.«
Er sah Matthieu an. Zwar predigt er von einer Republik ohne privaten Besitz, dachte dieser, in Wirklichkeit hält er dieses utopische Kleinod aber für
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