Das geheime Lied: Roman (German Edition)
dir die Idee nicht?«
»Wo ist diese Eingeborene?«
Als hätte sie ihr Gespräch mit angehört, erschien in genau diesem Augenblick Luna im Durchgang zum anliegenden Raum. Endlich war sie an seiner Seite, jetzt würde er sie endlich berühren können. Sie wirkte wie die Statue eines klassischen Bildhauers im ockergelben Morgennebel Madagaskars. Mit einer anmutigen Geste lehnte sie sich an die Wand, was sie sowohl naiv als auch sinnlich wirken ließ.
Matthieu war wie erstarrt.
Luna, meine Stille, meine Melodie …
Meine Stille … hallte es in seiner Brust wider.
Meine Melodie … erklang ein Flüstern in seinen Ohren.
Mit einem Mal geriet er in Panik. »Wir sind vom gleichen Stoff, aus dem Träume sind …«, hatte der Kapitän noch kurz zuvor gesagt. Wenn das hier Teil eines Traumes war, dann wollte er nie wieder erwachen. Warum ohne sie in der Realität weiterleben, und wenn ihm auch tausend Jahre geschenkt würden? Aber da stand Luna nun wirklich vor ihm, sie atmete die gleiche Luft wie er, und ihre nackten Füße berührten den Boden, auf dem er stand. Sie trug eine Hose, die unterhalb der Knie abgeschnitten worden war, und das gleiche weiße Hemd, in dem er sie an Bord der Victoire gesehen hatte.
»Komm doch her«, bat Misson. »Ich möchte dir Matthieu vorstellen.«
Sie regte sich nicht, fixierte den Musiker jedoch mit Blicken.
Die vollen Lippen bewegten sich kaum, als sie zum Gruß nur seinen Namen sprach: »Matthieu …« Sie neigte den Kopf.
Diese beiden Silben aus ihrem Munde zu vernehmen war für den Geiger, als könne er einen Bruchteil der eigenen Glückseligkeit ausmachen und beinahe mit der Hand danach greifen. Misson hörte in diesem Moment für ihn auf zu existieren.
»Du verstehst meine Sprache?«
»Als ich im Reich der Anosy geboren wurde, gab es schon Franzosen auf der Insel.«
Er konnte es kaum glauben, ihre Stimme war so voller Leben.
»Sie war als Kind schon rebellisch«, warf Misson ein und unterbrach so den Zauber. »Beim Einbruch der Dunkelheit schlich sie sich aus ihrer Hütte und verbrachte die Nacht im Haus eines Offiziers von Gouverneur Flacourt, dessen Frau sie wie eine Tochter behandelte.« Er sah zu ihr herüber. »So war es doch, nicht wahr?«
Sie erwiderte seinen Blick, ohne die Geschichte zu bestätigen.
»Ich muss gehen«, sagte sie schließlich.
»Warte …«, brach es aus Matthieu heraus.
»Eine Unterhaltung zwischen Männern ist wie der Kampf zweier Fossas«, verkündete sie und verglich sie so mit Raubkatzen ihrer Heimatinsel, die den Körper eines Löwen und den Kopf einer Ratte besaßen. »Es muss immer einen Sieger geben. Lasst euch von mir nicht weiter stören, aber gebt acht, sonst wird hier bald nicht nur Blut vergossen, sondern auch eure ganzen Ideen.« Matthieu war sprachlos. Luna glich in nichts der Frau, die er sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Vielleicht lag es an all den Vorurteilen, die seit seiner Abreise in La Rochelle auf ihn eingeprasselt waren, doch er hatte eher erwartet, dass sie sich wie ein verschrecktes Tier verhalten würde. Stattdessen zeigte ihr Auftreten, dass sie eine wahre Priesterin war wie die Vestalinnen Roms oder die Verehrerinnen Amuns, die das alte Ägypten so faszinierten. Ihre stolze Haltung war von Geburt an von den Hüterinnen der Stimme gefördert worden, der französische Einfluss Flacourts hatte jedoch auch ihre liebliche Seite zum Vorschein gebracht. Er empfand großes Mitleid für sie, wenn er daran dachte, dass diese einzigartige, besondere und unvergleichliche Frau dem Schicksal eines Lebens in Gefangenschaft entgegensah, wenn auch im goldenen Käfig.
»Matthieu wird jeden Morgen vorbeischauen, um mit dir zu arbeiten«, informierte Misson Luna.
Sie senkte die Lider.
»Dann komme ich also morgen wieder«, nutzte der junge Musiker die Gelegenheit, sich zu verabschieden, bevor er womöglich noch etwas Unangemessenes tat, sich zum Beispiel auf Luna stürzte, um sie zu küssen. »Ist es Euch bei Sonnenaufgang recht?«
»Komm, wann du möchtest. Ich werde in der Zeit den Rat leiten.«
»Den Rat?«
»Wenn es wichtige Entscheidungen zu fällen gilt, rufe ich alle Kapitäne zu einer Versammlung im Südturm des Hafens zusammen. So wie die Dinge im Moment stehen, kann ich sie wohl nur schwer davon überzeugen, La Bouche aufzunehmen.«
»Wie stehen denn die Dinge?«
Misson sah ihn scharf an.
»Ruh dich jetzt lieber aus. Du brauchst morgen früh einen klaren Kopf, um deine Aufgabe zu erfüllen.«
Matthieu war
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