Das geheime Lied: Roman (German Edition)
sein Eigentum.
»Und habt Ihr inzwischen entdeckt, was es ist?«, animierte er den Kapitän fortzufahren.
»Es wurde mir klar, kurz bevor wir uns auf See begegnet sind.« Er verstummte einen Moment, als wolle er die Erinnerung voll auskosten, und begann dann mit ruhiger Stimme zu erzählen. »Mein Schiff war in einer Bucht nahe Fort Dauphin vor Anker gegangen. Vor unserer Rückkehr nach Libertalia wollten wir dort den Frachtraum füllen. Die Anosy führten eine ihrer Beschwörungszeremonien durch, und Ambovombe, ihr neuer Herrscher, hatte die Weisen und Krieger aller Stämme zusammengerufen. Ich bot ihm eine Truhe Münzen aus einem Überfall auf ein portugiesisches Schiff an, und er akzeptierte bereitwillig. Nach unserem Tauschgeschäft bat er mich sogar, an der Zeremonie teilzunehmen. Als das Ritual sich dem Ende zuneigte, erschien in der Menge auf einmal eine Frau von betörender Schönheit, die auf einem Schild herbeigetragen wurde. Noch nie hatte ich etwas Ähnliches zu Gesicht bekommen. Dann begann sie zu singen, und alle starrten sie wie gebannt an. Jene seltsame Melodie brachte den Geist der Anwesenden, und meinen als Allererstes, mit jeder einzelnen Note völliger Erquickung näher. Ihre Stimme entführte mich in eine andere Dimension, ließ mich lachen und weinen, ich war Kind und Greis zugleich, wollte sterben und wiedergeboren werden …« Er hielt einige Sekunden inne. »Als ich mich auf den Weg zurück zum Schiff machte, entdeckte ich in meinem Boot diese Eingeborene. Sie hatte sich dort versteckt, sich wie ein verschrecktes Tier zusammengerollt. Ich konnte mein Glück kaum fassen.«
Matthieu beugte sich vor, damit sein Gegenüber unter seinem Hemd nicht erkennen konnte, wie wild sein Herz klopfte. Misson sprach offensichtlich von dem Tag, an dem Luna beschlossen hatte, dem Joch des Usurpators zu entfliehen.
Damit der andere nicht merkte, wie sehr seine Stimme zitterte, sagte er nur: »Sprecht weiter …«
»Musik! Das war es, was uns in Libertalia gefehlt hat! Wie hatte ich nur die Musik vergessen können, die ich doch früher einmal so sehr geliebt hatte? Seit Jahren hatte ich nichts anderes mehr gehört als die Sauflieder trunkener Matrosen! Habe ich etwa nicht Platon und Aristoteles gelesen? Und trotzdem hatte ich vergessen, dass Musik Heeren Mut macht, Regierungen stürzen kann und Könige wie Bürger zu Tränen rührt!«
»Die alten Griechen wussten, dass es Tonfolgen gibt, die die Menschen beflügeln, ebenso wie mixolydische Klänge sie traurig stimmen«, fügte Matthieu hinzu. »Damit ist es wie mit den Rhythmen: Einige vermitteln Ruhe, andere Edelmut oder Leidenschaft …«
»So ist es!«, rief Misson aus und schlug wütend auf den Tisch, so dass er den Kakao verschüttete.
»Wie Marc-Antoine Charpentier schrieb«, verwies Matthieu nun auf die Lehren seines Onkels, »hat jede Tonart einen anderen Charakter: C-Dur ist hart und kriegerisch, c-Moll düster und traurig; D-Dur ist fröhlich und angriffslustig, d-Moll ernst und ergeben und so weiter.«
»Und könntest du all diese Tonarten in einer einzigen Komposition vereinen?«, fragte Misson auf einmal.
»Wie bitte?«
»Meinst du, du wärst dazu in der Lage, eine Hymne für Libertalia zu schreiben? Ich spreche von einem Stück, das um den Gesang dieser Eingeborenen herum komponiert werden soll.«
Ein Stück ausgehend von ihrem Gesang … Er hatte also richtig vermutet: Misson wollte die Verführungskraft dieser Musik nutzen und bat ihn dabei um Hilfe. Wen wollte er so bloß unterwerfen? Zweifellos hatte er im Sinn, damit seine eigenen Anhänger an sich zu binden, bevor sie sich in alle Winde zerstreuten, oder die Eingeborenen, denen er vor Jahren – wenn auch unter dem Deckmantel guter Taten – die Insel gestohlen hatte.
»Eine Hymne …«
»Richtig! Und ich will, dass du sie zusammen mit Luna und einem Chor aus Bürgern meiner Republik vorträgst. Welch unendliche Vollkommenheit! Eine Eingeborene trägt ihren Gesang vor wie die Sopranistin einer großen Oper, neben ihr spielt ein Weißer die erste Geige, und hinter ihnen stehen Hunderte von Männern und Frauen, die in einem gemischten Ensemble aus Europäern und Afrikanern ihre Stimme im Einklang erheben! Die Essenz Libertalias in Musik übertragen!«
Die erste Geige an Lunas Seite … Wie war es nur möglich, dass das Schicksal ihn und diese Frau nun doch zusammengeführt hatte?
»Was ist denn?«, fragte Misson, dem auffiel, wie abwesend Matthieu auf einmal wirkte. »Gefällt
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