Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
Vom Netzwerk:
vor«, erklärte Matthieu schließlich.
    Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Matthieu griff nach ihrer Hand, die weich und glatt war. Sie wirkte wie frisch aus Bronze gegossen, zart, vollkommen. Er legte sie auf die Violine, und Luna wehrte sich nicht. Endlich hörten beide auf zu zittern. Matthieu schob die vier Saiten vom Steg und führte Lunas Finger über die Wülste des Resonanzbodens und die s-förmigen Schalllöcher in der Decke. Gemeinsam liebkosten sie den Wirbelkasten und die Schnecke, die mit einer Schnitzerei in Form eines Löwenkopfes verziert war.
    »Hier ist das Material anders«, flüsterte Luna, als er die Kuppe ihres Mittelfingers über das Griffbrett gleiten ließ und das Holz leise ächzte.
    »Das ist Ebenholz.«
    »Und das hier?«
    Sie berührte sanft die Decke der Geige.
    »Dieser Teil ist aus Fichtenholz. Und im Inneren befindet sich die Seele.«
    Er drehte das Instrument um und legte Lunas Hand auf den Boden der Geige. Dann umfing er sie mit der seinen und schloss die Augen, als wolle er dem Puls des Instruments lauschen.
    »Hat sie wirklich eine Seele?«
    Matthieu lächelte.
    »So heißt ein Element, das hier unten eingearbeitet ist …« Er drehte die Violine wieder um und zeigte es ihr in der Mitte des Instruments zwischen den Schalllöchern. »Es ist dazu da, den Druck auf das Holz zu mindern und die Töne im ganzen Klangkörper gleichmäßig zu verteilen, damit sie so rein wie möglich erklingen.«
    »Und ich dachte, du meintest eine andere Art von Seele.«
    »Die hat sie auch.« Einen Moment lang blickte er schweigend das Instrument an und dann wieder Luna. »Eine Geige fängt die Gefühle dessen ein, der darauf spielt.«
    Die Priesterin atmete tief durch. Auch sie hatte so etwas noch nie verspürt. Sie war überzeugt, dass die Kräfte des Universums sie hier genau in diesem Augenblick zusammengeführt hatten. Luna dachte an ihre Flucht und an den Moment, in dem sie Misson während der Beschwörungszeremonie am Strand entdeckt hatte. Beim Anblick seiner mit Khol umrandeten Augen, schwarz wie die der bengalischen Piraten, und seiner mit Symbolen eines unbekannten Stammes tätowierten Gesichtshälfte war ihr sofort klar geworden, dass Mutter Natur ihn gesandt hatte, um sie von ihrem Schicksal zu erlösen. Niemand wusste, dass sie in ihrer Hütte Nacht für Nacht bittere Tränen vergossen hatte. Sie hatte die Sterne angefleht, sie aus diesem furchtbaren Dorf zu befreien, in dem die Hüterinnen der Stimme Schutz fanden, sich im Gegenzug aber einem lüsternen und grausamen Schwachsinnigen unterwerfen mussten. Es stimmte zwar, dass Ambovombe es aus Angst vor den Ahnen noch nicht gewagt hatte, sie anzurühren, Luna dachte jedoch mit Schrecken daran, dass er sich womöglich gegen Zanahary selbst auflehnen könnte, nur um das Lager mit ihr zu teilen. Daher hatte sie keine Sekunde gezögert. Als die Anosy nach der Zeremonie verzückt in die rituellen Formeln des Schamanen mit eingefallen waren, hatte sie sich in Missons Boot verborgen.
    »Du bist der Wasserfall und ich der Fluss, der unausweichlich näher kommt«, raunte sie schließlich in diesem unbeschreiblichen Tonfall, der ihre Stimme charakterisierte.
    »Als ich dich von unserem Schiff aus zum ersten Mal sah, als du an Deck tratest und dich hinter dem Mast verbargst, da dachte ich, dass meine Sinne explodieren würden.«
    »Es waren nicht die Sinne, die uns zusammengeführt haben. In diesen Moment hatte dein Geist meinen schon längst gefunden.«
    Matthieu sah sie an.
    »Wie konnte ich nur ohne dich leben?«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr.
    Luna schob sich auf den Tisch, streckte sich darauf aus und rollte sich dann zusammen wie ein Lemurenjunges. In ihren Augen glitzerten goldene Sterne.
    »Wirst du es tun?«, fragte sie sanft.
    »Was?«, flüsterte er.
    »Wirst du für mich auf deiner Geige spielen?«
    Matthieu schwieg. Er musste daran denken, dass die Hüterinnen der Stimme der Mondesstimme die Ohren zuhielten, damit keine andere Musik die Melodie verfälschte, die sie in ihrem Inneren trug.
    »Wirst du für mich spielen?«, bat sie wieder.
    Sie hielt seinem Blick stand, war so ruhig und zugleich tiefgründiger als alle Gräben im Ozean rund um die Insel. Matthieu schloss die Augen. Ein einziges Stück wird sicher keinen Schaden anrichten, dachte er. Auf diese Art und Weise konnte er ihr am besten zeigen, wer er war. Seine Geige würde die Magie heraufbeschwören, mit der er ihr das Universum nahebringen konnte,

Weitere Kostenlose Bücher