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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Missons Stimme. Der Piratenherrscher war in eine erhitzte Debatte mit den anderen Kapitänen verwickelt. Die Wände des Saals zierten rote Handabdrücke – angelehnt an die Höhlen, in denen die Ureinwohner der Insel lebten –, und Fensterchen an allen Seiten zeigten die Dächer der Kolonie, den Hafen und das glitzernde Smaragdmeer. In der Mitte des Raumes stand ein Holztisch, dessen Beine den Totemschnitzereien der Eingeborenen nachempfunden waren. Darauf ruhten die Schwerter der Männer. Abgesehen von Caraccioli zählte Matthieu noch zehn weitere Kapitäne mit gegerbter Seemannshaut voll ritueller Tätowierungen – von denen keine Missons Blutstränen ähnelte – und geschmückt mit Halsketten und anderen Fetischen. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass La Bouche sich unter ihnen befand und sich bereits aufführte wie einer von ihnen.
    »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, erklärte Kapitän Tew, eines der einflussreichsten Ratsmitglieder. »Der Traum von Libertalia geht zugrunde.«
    Angesichts dieser kategorischen Feststellung verstummten die anderen, die bisher wild durcheinandergeredet hatten. Misson blickte einen Moment lang nachdenklich drein, bevor er schließlich etwas entgegnete.
    »Es sind doch Eure Männer, die sich schon eine ganze Weile nicht mehr an die Regeln halten«, brachte er mit ernster Stimme hervor. Gemeint waren die englischen Seeleute unter Tews Kommando. »Sie haben ja noch nicht einmal über die Beute der letzten Fahrten Rechenschaft abgelegt.«
    »Und was soll ich Eurer Meinung nach dagegen tun? Unsere Piraten zerfallen in einzelne Grüppchen, je nachdem welcher Nationalität sie angehören. Es ist vorbei mit dem gemeinsamen Ideal. Die Holländer wollen sich an der Küste von Sansibar ansiedeln, und die Portugiesen haben schon zwei geschlossene Versammlungen abgehalten – niemand weiß, was dort besprochen worden ist.«
    Zwei Kapitäne bezogen diese Bemerkungen auf sich, klopften wütend auf den Tisch und heizten die Diskussion wieder an. Misson lauschte ihren Worten ein wenig abwesend. Wie Pierre am Abend zuvor bereits angedeutet hatte, schien die Überzeugung des Republikgründers nicht mehr stark genug zu sein, um das ganze Gebilde zusammenzuhalten. Daher brauchte er neue kollektive Rituale wie die auf Lunas faszinierender Melodie basierende Hymne.
    Caraccioli erhob sich aus seinem Stuhl und humpelte auf dem Holzbein voran. Polternd umrundete er den Tisch und stellte sich an die Seite des Anführers. Jetzt war wieder einmal der Moment gekommen, wie in vielen anderen schwierigen Situationen auch dem Rest gegenüber Einigkeit zu beweisen.
    »Sag ihnen die Wahrheit, Kapitän«, drängte er Misson.
    Die anderen Männer verstummten.
    »Was meint Ihr?«, fragte Tew verblüfft.
    »Das einzige Problem hier ist doch, dass Ihr Angst habt!«
    »Was?«
    »Ihr befürchtet, die Eingeborenen könnten inzwischen begriffen haben, dass wir gar nicht so unbesiegbar sind, und uns von ihrer Insel vertreiben wollen.«
    »Das ist doch Unsinn. Dieses Risiko bestand immerhin von Anfang an …«
    »Mein Gott, wir wissen doch alle, dass die Dinge sich geändert haben …«, rief der Priester erzürnt.
    »Darf ich fragen, was Ihr damit sagen wollt?«, mischte sich La Bouche zum ersten Mal ein.
    »Es geht um eine Gruppe befreiter Sklaven. Wir waren davon ausgegangen, dass sie sich gut in der Kolonie integriert hatten, nun sind sie aber mit einem Mal verschwunden. Vermutlich sind ihnen die Spannungen der letzten Zeit nicht verborgen geblieben, und dann wurden sie auch noch von einem Aufwiegler angestachelt …«
    »Es handelt sich höchstwahrscheinlich um den Herrscher eines Kriegerstammes aus dem Süden von Angola«, fügte der Kapitän hinzu, der den Mann vor einigen Monaten selbst von einem Schiff befreit hatte, das nach Indien unterwegs war. »Verfluchter Schuft!«
    »Es hat immer schon ehemalige Sklaven gegeben, die gegen uns einen Groll hegten, weil sie nicht begriffen, dass wir anders sind als die restlichen Europäer«, erklärte ein Kapitän dem Neuankömmling La Bouche, ohne zu ahnen, dass er hier mit einem Menschenhändler sprach.
    »Auf jeden Fall«, fuhr Caraccioli fort, »hat er einige seiner Männer davon überzeugt, mit ihm Libertalia zu verlassen und sich bei den Eingeborenen anzusiedeln. Nun wird gemunkelt, dass sie einen Angriff vorbereiten. Wenn sich die verschiedenen Stämme verbünden, verfügen sie über eine wahre Streitmacht.«
    La Bouche schien das nicht zu

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