Das geheime Lied: Roman (German Edition)
begreifen.
»Aber wieso sollten sich die Eingeborenen denn gegen Euch auflehnen? Warum jetzt, nach all der Zeit?«
»Misson vernachlässigt die Beziehungen zu ihnen schon seit Jahren«, erklärte Tew rasch.
Der Erwähnte schien nun endlich aus seiner geistigen Abwesenheit zu erwachen.
»Wie könnt Ihr so etwas nur …«
»Es stimmt doch, Kapitän«, sprach der Engländer weiter. »Ihr lasst nicht mehr die Strenge und subtile Diplomatie vergangener Tage walten. Auch wer gegen die immer schon geltenden Regeln auf der Insel verstößt, wird nicht mehr so hart bestraft. Vor einem Monat wurden im Dorf bei der Bucht drei Mädchen vergewaltigt, und der dortige Herrscher wartet noch immer darauf, dass Ihr die Konsequenzen zieht. Für sie zählt es nicht, dass Ihr Verräter wie die beiden Portugiesen im Tamarindenbaum straft. Sie erwarten, dass Ihr auch gegen Verletzungen ihrer Rechte vorgeht.« Er verstummte kurz. »Und glaubt nicht, dass ich Euch Vorwürfe machen will, mein Freund. Aber Libertalia ist einfach zu groß geworden. Wir sind zu viele Männer für so ein kleines Stück vom Paradies.«
La Bouche nickte. Selbst Matthieu, der noch immer unentdeckt auf der Wendeltreppe verweilte, spürte einen Kloß im Hals.
»So stehen die Dinge also«, resümierte Caraccioli schließlich. Es half ja doch nichts, sie mussten der Realität ins Auge sehen. »Die Gruppe der flüchtigen Verräter will die Kluft nutzen, die sich zwischen den Bewohnern verschiedener Nationen auftut, um uns zu vernichten und unsere Heimat einzunehmen. Sie wissen, dass die meisten unserer Männer lieber fliehen würden, als ihr Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, an das sie schon lange nicht mehr glauben …«
»Und genau deshalb«, ergriff Misson nun das Wort, »kann ich nicht zulassen, dass meine Leute die Republik jetzt verlassen. Wir müssen uns geschlossener zeigen denn je. Eine Invasion aus dem Inland! Wie paradox!«, lachte er auf einmal zur Überraschung aller. »Unsere komplette Verteidigung ist doch zur Seeseite hin angelegt!«
Matthieu wusste nicht so recht, was er mit alledem anfangen sollte, was er da hörte. Er wollte sich bereits wieder zurückziehen, schließlich aber wurde ihm klar, dass das vermutlich bald ausbrechende Chaos La Bouche bei seinem Plan nur in die Hände spielen würde. Als er gerade den Versammlungssaal betreten wollte, um allen von den wahren Absichten des neuen Kapitäns zu berichten, vernahm er hinter sich eine Stimme.
»Matthieu!«
Er wandte sich um. Jemand lief hastig die Stufen hinauf.
»Pierre?«
»Endlich habe ich dich gefunden! Ein Matrose hat mir gesagt, er habe dich in den Turm gehen sehen.«
»Sprich bitte leise«, bat Matthieu den Arzt.
»Was tust du hier?«
»Ich werde Misson alles erzählen. Das ist unsere einzige Chance …«
»Nein, nein, das ist alles gar nicht mehr nötig.«
Pierre schluckte und rang nach Atem.
»Was ist geschehen, erzähl!«
»Ich habe mit dem Seemann gesprochen, den ich gestern erwähnt habe. Es steht viel schlimmer um Libertalia, als wir dachten. Man vermutet, die Eingeborenen werden …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn der Geiger. »Der Rat hat gerade darüber gesprochen.«
»Umso besser, dann kann ich ja zum Punkt kommen.« Pierre atmete tief durch. »Der Matrose wird mit einer Gruppe Franzosen die Insel verlassen und hat mir angeboten, uns mitzunehmen.«
Matthieu war sprachlos. Es war, also ob die düstere Wendeltreppe plötzlich in Licht getaucht wurde. Endlich einmal eine gute Nachricht.
»Wohin würden sie uns denn bringen?«
»Wir würden den Kontinent umrunden und an irgendeinem Strand in Senegal an Land gehen in der Nähe von Gorée. Sie würden in die Karibik weiterfahren, und wir würden kein Problem haben, ein Schiff der Kompanie zu finden, das uns nach Frankreich mitnimmt. Kannst du es fassen? Wir wären fort, noch bevor hier alles in die Luft geht, und du würdest rechtzeitig nach Paris zurückkehren, um deine Mission zu erfüllen.«
»Für wann ist die Abfahrt geplant?«
»Für heute Nacht.«
»Schon heute Nacht?«
»Hast du die Melodie inzwischen kopiert?«
Matthieu schwieg einen Moment.
»Noch nicht.«
»Dann …«
Matthieu wurde mit einem Mal klar, dass er dieses Schiff unmöglich besteigen konnte. Er senkte den Blick.
»Selbst wenn ich sie schon niedergeschrieben hätte, könnte ich niemals ohne Luna gehen. Kehr nach Frankreich zurück und mach dir um mich keine Sorgen. Ich finde schon einen Weg …«
»Dabei wollte ich dir gerade
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