Das geheime Lied: Roman (German Edition)
erreicht und wurden bei ihrem Abstieg immer schneller. Sie hielten ohne jede Angst vor den niederprasselnden Kanonenkugeln auf die Siedlung zu. Die Horden aus den Bergen brachten die Nacht mit sich. Im letzten Abendlicht erkannte er ihre Reißzähne, angespitzt mit einem rauen Stein, den es auf der Insel überall gab, ihre Elfenbeinaugen und die aschgraue Haut, die so dunkel war wie die Schatten, die bald alles verschlucken würden.
Er begann zu laufen. Zunächst tastete er sich vorsichtig voran, um zu sehen, ob er auch nicht straucheln würde, dann aber rannte er, was die Beine hergaben. In der Brust spürte er den Druck der Explosionen, seine Schläfen pochten bei jedem Schritt, er fühlte auf der Haut den Wind, der ein Unwetter ankündigte, die ersten Regentropfen und sah am Fuße des Hügels die Soldaten schreien, während er über die Barrikade sprang, die dort als Schutz vor dem Angriff errichtet worden war. Die Töne dazu stellte er sich vor, er hörte jedoch nichts.
Gar nichts.
22
W o bist du bloß, Luna?
Matthieu wankte durch einen stummen Albtraum. Wie von den aufrührerischen ehemaligen Sklaven geplant, ließen die meisten Europäer alles stehen und liegen, als sich das Heer der Eingeborenen über die Hänge ergoss, und machten sich schnellstmöglich auf den Weg zu den Schiffen, die sie vom Leben in diesem ausgelaugten Paradies fortbringen würden. Überall verzerrte Mienen, der Geruch von verbranntem Pulver, Entsetzen auf tränenverschmierten Gesichtern, Anspannung, Salz und Lehm … Der Musiker erreichte Missons Hütte. Er öffnete alle Türen, schleuderte Gegenstände zu Boden, die er zerschellen und lautlos in Stücke gehen sah. Keine Spur von Luna. Der Gedanke, dass sie ihn vielleicht aus irgendeinem Versteck heraus rief und er sie nicht hören konnte, machte ihn wahnsinnig. Er rannte zum Hafen. Fackeln entrissen dem Dunkel der Nacht grauenhafte Szenen. Eine Frau, die ihr Kind in ein Stück Segeltuch eingewickelt bei sich trug, umklammerte seine Beine und flehte ihn an, ihr zu helfen. Aber was konnte er schon tun? Er warf einen Blick in die schlammigen Straßen zwischen den Häusern. Immer wieder prallte er mit Matrosen zusammen, die ihn brutal zur Seite stießen. Panik keimte wie ein verderblicher Samen in ganz Libertalia und drohte die Bevölkerung zu vernichten, noch bevor es die Eingeborenen tun würden, die die erste Verteidigungslinie von Missons kampfbereitesten Männern überwinden konnten. Der Regen prasselte heftig. Zwischen den Leichen floss Blut auf den Straßen. In einigen Gassen führten die Eingeborenen einen hysterischen Tanz auf und schwenkten in einer Hand ihre Macheten, in der anderen abgetrennte Gliedmaßen der Männer, die versucht hatten, sich ihnen auf dem Weg zum Hafen entgegenzustellen.
Matthieu kam an dem langgezogenen Gebäude vorbei, an dem er sich vom Griot verabschiedet hatte. Er trat ein, um seinen Freund zu suchen, aber das Haus war leer. Als er es wieder verließ, traf er auf einen Eingeborenen, dem es gelungen war, allein bis dorthin vorzudringen. Abgesehen von einem Lendenschurz und einem Lederband um die Brust war er nackt. Der Mann holte mit der Machete aus, Matthieu reagierte jedoch blitzschnell, nutzte seinen Vorteil durch die erhöhte Position des Hauses und versetzte ihm einen Tritt gegen die Brust, der ihn nach hinten warf. Ohne auch nur einen Moment zu verlieren, stürzte Matthieu sich auf den Krieger und schlug ihm mehrmals ins Gesicht. Dass er nichts hören konnte, weder seine eigenen Schläge noch die Schmerzensschreie des Eingeborenen, schien die Brutalität der Szene zu mindern. Das alles wirkte nicht einmal real. Er entriss dem Mann die Machete, brachte es aber nicht über sich, ihm die Kehle durchzuschneiden. Daher versetzte er ihm mit dem Griff einen Hieb gegen die Schläfe und rannte dann wieder auf den Kai zu.
Als er dort eintraf, überkam ihn ein Gefühl der Beklemmung, das mit Worten nicht zu beschreiben war. Er sah, dass einige Piraten, die Misson noch immer treu ergeben waren, die Festungsanlagen im Hafen erklommen und heldenhaft den Platz der geflohenen Artilleristen einnahmen. Ohne Unterlass feuerten sie die Kanonen in die Dunkelheit der Hügel ab und versuchten so vergeblich, den ständigen Fluss der Krieger aufzuhalten. Matthieu sah aber auch, dass einige von ihnen die Rohre der Kanonen neu ausrichteten und sie voller Zorn benutzten, um die Boote ihrer früheren Kameraden zu versenken, welche auf die im Hafen ankernden Schoner
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