Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
Vom Netzwerk:
einem Mal ernst.
    »Freust du dich denn nicht darüber, mit mir zu kommen?«
    »Auf einmal habe ich das Gefühl, dass es für immer sein wird.«
    »Was meinst du?«
    »Das bedeutet doch, dass ich meine Schwestern nie wiedersehen werde.«
    Matthieu erschauderte. Es gab da noch eine Sache, die er ihr nicht erzählt hatte, das spürte die Priesterin sofort.
    »Luna …«
    »Halt deine Worte nicht zurück!«
    »Die Hüterinnen …«
    »Lass mich nicht warten, sprich …«
    »Sie alle sind …«
    Seine Augen sprachen vom Blut und der Asche.
    »Meine Schwestern!«, schluchzte sie.
    »Das war Ambovombes Tat.«
    »Nein, nein, nein …«
    »Es tut mir so leid …«
    Er versuchte, sie wieder in die Arme zu schließen, sie sprang jedoch unter trostlosem Schluchzen auf und begann, Namen in ihrer Sprache in den Himmel zu schreien. Dann bäumte sie sich auf und heulte wie ein wildes Tier in der Schlinge. Sie schien völlig den Verstand zu verlieren. Ohne ein weiteres Wort rannte sie den Hügel hinab, vom Säuseln der Bambusstämme verfolgt.
    »Luna!«, rief Matthieu.
    Sie blieb nicht stehen. Er lief ihr nach. Als sie sich auf halber Höhe des Hanges befanden, ertönte plötzlich der erste Kanonenschuss. Wer hatte ihn abgefeuert?
    »Luna! Warte doch bitte!«
    Aber sie entfernte sich weiter von ihm.
    Erneut das Donnern einer Kanone. Das konnte doch nicht sein … Hatte die Revolte etwa bereits begonnen? Beim Beginn des Aufstands wollten sie doch längst weit weg sein. Und wieder ein Schuss. Er kam vom Hafen her, und dieses Mal war er auf die Hügelkette ausgerichtet! Matthieu hielt sich die Arme vors Gesicht, als die Kugel gefährlich nahe einschlug.
    »Was zum Teufel geht denn da vor?«
    In diesem Moment bemerkte er, zunächst ganz leise, noch ein weiteres Geräusch. Als er sich darauf konzentrierte, wurde es immer lauter. Es handelte sich um eine Art gutturales Grunzen, das hinter ihnen heranrollte wie ein Lavastrom. Er wandte sich um und nahm den Hügel in Augenschein, betrachtete den Hang jenseits des Bambuswaldes. Er konnte es kaum glauben. Der Berg war von Eingeborenen übersät. Immer mehr graue Körper tauchten zwischen den dichten Pflanzen auf, Hunderte von ihnen. Es stimmte also! Die Stämme der Insel hatten sich vereint, um zu einem einzigen, tödlichen Schlag gegen Misson auszuholen. Die Geschichte von Fort Dauphin wiederholte sich. Wie war das bloß möglich? Libertalia war doch keine Ausbeuterkolonie, sondern ein gemeinschaftlicher Garten Eden. Gemeinschaftlich? Offensichtlich hatten die Eingeborenen den Korsarenherrscher immer als Eindringling angesehen, und deshalb musste er nun sterben.
    »Luna …«, murmelte Matthieu und drehte sich wieder um, sie war aber schon weit fort. Er stand genau zwischen der Siedlung und jenem aufgepeitschten Heer, das sich unaufhaltsam über die letzte Utopie ergießen würde, als eine der Kanonen der Hafenbatterie eine weitere Kugel ausspuckte. Matthieu riss die Augen weit auf, unterdrückte einen Schrei und warf sich zu Boden. Die Wirkung des Einschlags war unglaublich. Das Projektil riss zwei Palmen mit sich, von denen eine Matthieu am Kopf traf. Sein Mund schmeckte nach Erde.
    Das Gesicht brannte, als hätte man es ihm versengt …
    Nach und nach kam er wieder zu sich.
    »Oh mein Gott …«, stieß er entsetzt hervor und betrachtete seine Hände, berührte dann die Beine. Er konnte sie bewegen. Dann tastete er den restlichen Körper ab. Alles schien in Ordnung zu sein, und dennoch … So gut es ging, stand er auf – und dann begriff er es endlich.
    »Oh mein Gott, mein Gott … Was ist das nur? Was geschieht da mit mir?«
    Er konnte seine eigene Stimme nicht mehr hören. Und auch sonst keinen einzigen Laut.
    »Kann das denn wirklich wahr sein?«
    Er bewegte die Lippen, spannte das Zwerchfell an und ließ Luft ausströmen, die Antwort war jedoch nur Stille. Eine unerträgliche Stille, die in seinem Kopf immer größer und größer wurde, bis er schließlich den Mund öffnen musste, damit ihm nicht der Schädel platzte. Mit einem Mal fühlte sich sein Körper so fremd an. Er bewegte die Arme und konnte das Rascheln des Hemdes nicht vernehmen und auch nicht das Rauschen des Luftzugs. Er stampfte mit den Füßen auf, doch es war nichts zu hören, auch nicht, als er ganze Grasbüschel ausriss. Er hob die Hände an die Ohren und stieß erneut einen Schrei aus, spürte aber nur das Brennen in der Kehle.
    Danach sah Matthieu nach oben. Die ersten Eingeborenen hatten bereits den Bambuswald

Weitere Kostenlose Bücher