Das geheime Lied: Roman (German Edition)
zuruderten. Das alles kam ihm vor wie eine Szene aus der Apokalypse. Während die Segel sich entfalteten und an den Tauen zerrten, töteten sich die Deserteure gegenseitig, um sich an Bord der überfüllten Schiffe einen Platz zu sichern.
Matthieu blieb nur wenig Zeit. Er presste den Rücken an die Wand eines Gebäudes, in dem auf Beutezügen zu Schaden gekommene Schiffsteile repariert wurden, und versuchte, Luna in einem der Boote auszumachen, die zu Wasser gelassen wurden. Er suchte nach ihr in jeder Gruppe verzweifelter Frauen, die auf der Mole die Männer anflehten, sie auf ein Schiff mitzunehmen, in jedem verwundeten Gesicht, das vorbeizog. Viel früher als erwartet erschien der erste Vorposten der Eingeborenen. Von den rostigen Macheten der Männer tropfte Blut. Holländischen Matrosen, die sich in einer dunklen Ecke verborgen hatten, gelang es, einige von ihnen zu erschießen. Deren Gefährten konnten sie jedoch durch den kurz aufflackernden Feuerschein der Musketen ausmachen und warfen sich auf sie, ohne ihnen Zeit zum Nachladen zu geben. Es machte den Angreifern nichts aus zu sterben. Zu töten war alles, was sie wollten. Sie wurden schließlich durch Schüsse anderer Piraten niedergestreckt, die den Holländern zu Hilfe eilten, aber alle wussten, dass sie das Ende damit nur hinauszögerten. In wenigen Minuten würde sich ein ganzes Heer auf sie stürzen.
Matthieu fiel auf die Knie. Er hörte auf, Luna in dieser Brutstätte des Hasses zu suchen. Am liebsten hätte auch er in diesem Moment zu atmen aufgehört, er wünschte sich, es sei endlich alles vorüber. Er legte sich die Hände hinter die Ohren und stieß einen letzten Schrei aus, den er selbst nicht hören konnte. Und dann sah er im Licht einer Fackel das tätowierte Gesicht.
»Misson …«
Der Pirat verließ den Versammlungsturm gemeinsam mit Caraccioli und einer Gruppe Offiziere, denen er Befehle zurief. Er bat sie, alle Anstrengungen auf die Verstärkung der Barrikaden zu konzentrieren, um Zeit zu gewinnen, bis die Bevölkerung die Siedlung verlassen hatte. Dabei wusste er nur zu gut, dass er wenig gegen diese Horden von Eingeborenen ausrichten konnte, die sich mit nackter Brust ihren Kanonen und Musketen entgegenwarfen, so als sei der Tod ihnen unbekannt oder als schicke er sie persönlich. Matthieu wollte zu ihm laufen und ihn nach Luna fragen, dann aber fiel ihm auf, dass auch La Bouche zu der Gruppe gehörte. In diesem Moment packte ihn jemand an der Schulter. Erschrocken fuhr er herum.
Es war Pierre in Begleitung des Griot.
»Pierre!«
»Was ist mit dir?«
»Pierre, ich kann dich nicht hören!«
Der Arzt und der Griot begannen, gleichzeitig auf ihn einzureden. Was sagten sie da? Am liebsten wäre der Geiger in Tränen ausgebrochen, sowohl vor Hilflosigkeit als auch vor Erleichterung, weil er nun endlich nicht mehr allein war. Er versuchte ihnen zu erklären, was ihm passiert war, konnte aber nicht einmal sicher sein, alles verständlich auszusprechen. Pierre nickte und versuchte ihn mit Gesten zu beruhigen. Dann wiederholte er ganz langsam immer wieder den gleichen Satz, damit Matthieu ihm die Worte von den Lippen ablesen konnte, und zeigte auf ein Boot, das der Matrose aus Fort Dauphin gerade losmachte.
»Er will uns zu seinem Schiff bringen. Lauf!«
Pierre wollte den Musiker am Arm mit sich ziehen.
»Ich muss erst Luna finden«, machte sich Matthieu mit verzerrter Miene los.
»Wie bitte?«
»Luna!«
»Wo ist sie?«
»Ich habe sie überall gesucht! Was kann ich jetzt noch tun?«
Der Arzt warf einen Blick zum Boot hinüber. Dort bedeutete ihnen der Matrose, sich zu beeilen. Pierre bat ihn mit einer Geste, noch zu warten.
»Sie hat sich bestimmt irgendwo versteckt. Hat sie dir denn nichts gesagt?« Pierre versuchte, sich Matthieu verständlich zu machen, während dieser trotz Taubheit dennoch von jedem Kanonenschuss aus den Festungsanlagen abgelenkt wurde. »Denk nach!«, drängte er ihn, während immer mehr Eingeborene den Kai erreichten. Die wenigen Piraten, die noch Widerstand leisteten, konnten sie kaum aufhalten. »Bitte …«
Pierre sah dem jungen Mann unverwandt in die Augen und machte eine kreisende Handbewegung, um ihn aufzufordern, sich zu erinnern. Matthieu wagte es, die Augen zu schließen. Einen Moment lang verschwand all das Grauen. Er konnte weder hören noch sehen, spürte aber die Hand des Freundes am Arm. Endlich ein friedlicher Moment …
Dann kam ihm etwas in den Sinn: »Die Grotte der Muschel …«
Er
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