Das geheime Lied: Roman (German Edition)
schlug die Augen auf und kehrte in die Hölle zurück.
Pierre zuckte mit den Achseln.
»Welche Muschel?«
»Ich weiß auch nicht. Luna hat mir heute Morgen erzählt, dass sie ihre Muschel in einer Höhle an der Steilküste verborgen hat.«
Der Arzt wechselte ein paar Worte mit dem Griot. So langsam verzweifelte Matthieu. Hatten sie ihn richtig verstanden? Der Afrikaner nickte. Er ging davon aus, dass der Musiker eine Höhle in einer Felswand aus schwarzem, mit Löchern durchzogenem Stein meinte, die an eine nahe Bucht grenzte. Er deutete in die entsprechende Richtung. Matthieus Herz begann zu klopfen. Pierre warf einen Blick zu La Bouche hinüber.
»Wir gehen hinten herum, um ihm nicht über den Weg zu laufen«, entschied er. »Wartet einen Moment.«
Geduckt lief der Arzt zum Boot des Matrosen hinüber und wies ihn an, ohne sie aufzubrechen. Sie würden schon einen Weg finden, das Schiff zu erreichen, bevor es ablegte. Der Mann sah ihn befremdet an, ließ dann aber an ihrer Stelle zwei Frauen mit fünf kraushaarigen Kindern einsteigen, die verzweifelt nach jemandem suchten, der sie in seinem Boot mitnehmen würde. Der Griot griff sich eine Fackel, sie umrundeten in Windeseile die Festungsanlagen und betraten einen Palmenhain, dessen Boden mit den Resten alter Netze und Taue übersät war. Hier ohne straucheln voranzukommen war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Es handelte sich um eine Art Friedhof für Takelwerk, das wieder zum Leben zu erwachen schien, um sie beim Knöchel zu packen. Sie steckten mitten im Gestrüpp, als auf einmal Schreie in der Nähe zu hören waren. Pierre warf dem Griot einen besorgten Blick zu. Sie waren davon ausgegangen, dass die Eingeborenen nicht versuchen würden, den Hafen von dieser Seite aus zu erreichen. Es handelte sich um die unzugänglichste, aber auch die am wenigsten bewachte Stelle. Sie blieben stehen. Matthieu drehte sich um. Mehrere Pfeile sausten geräuschvoll durch den Palmenhain.
»Weg mit der Fackel!«, rief Pierre. »Wirf sie so weit fort, wie du nur kannst!«
Die Pfeile schossen nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt vorbei und blieben in Baumstämmen stecken. So gut es eben ging, liefen sie über das Netz aus verwesendem Tauwerk in Richtung Bucht weiter. Endlich verspürten sie Sand unter ihren Füßen, hetzten bis zum Ufer weiter und folgten dem Strand bis zu einem riesigen Felsblock, der sich im hinteren Bereich der Bucht befand. Dort ahmten sie die Muscheln nach und pressten sich mit Armen und Rücken an den dunklen Stein.
»Sind sie uns gefolgt? Mein Gott, man kann ja gar nichts erkennen!«
Hätte er sein Gehör nicht verloren, dann hätte Matthieu jetzt die Ohren gespitzt und die einzelnen Geräusche voneinander getrennt, so wie er es mit den einzelnen Stimmen tat, wenn er eine Orchesterkomposition studierte: das Flüstern der Blätter, über die der Wind strich, jeder einzelne Regentropfen, das Donnern vom Hafen her, das Raunen im Palmenhain, die vorsichtigen Schritte der Eingeborenen …
Pierre zog ihn wieder am Arm und holte ihn in die stumme Wirklichkeit zurück.
»Wir beide gehen weiter«, gab er ihm mit Gesten zu verstehen. »Der Griot sucht am Ufer nach einem Fischerboot der Eingeborenen, um uns damit zum Schiff zu bringen. Hast du mich verstanden?«
Matthieu nickte nachdenklich.
»Und wenn Luna nicht da ist?«, brachte er schließlich hervor.
»Bete, dass sie es ist«, murmelte der Arzt, obwohl sein Freund ihn natürlich nicht hören konnte.
Während der Griot flink wie eine Antilope davonhuschte und sich in der Dunkelheit verlor, erklommen Pierre und Matthieu den Felsen, um die Steilwand etwa zwei Meter über dem Wasser zu umrunden. Die scharfkantige Form und Textur des Steins ließ an das riesige Maul eines Seeungeheuers denken.
Als sie sich gerade ins Innere der Höhle schieben wollten, riss Pierre mit einem Mal die Augen weit auf.
Ein vereinzelter Pfeil, der von einem Eingeborenen hoch oben auf dem Felsen abgeschossen worden war, hatte ihm dicht unter dem Hals den Oberkörper durchbohrt.
»Matt…«
Mit ungläubiger Miene sackte er zusammen. Matthieu warf sich auf ihn.
»Pierre! Nein, nein, nein …!«
Er wusste nicht, was zu tun war. Blut floss. Den Pfeil konnte er nicht herausziehen. Er packte seinen Freund bei den Schultern und schüttelte ihn, damit er nicht das Bewusstsein verlor. Die absolute Stille warf noch immer den Schleier des Irrealen über die Szene, aber dies geschah wirklich: Pierres Blick wurde immer leerer. Der
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