Das geheime Lied: Roman (German Edition)
die verschiedensten Rosétöne. Es war ein guter Ort, um bis zu dem Treffen mit Pierre auszuharren. Von diesem Punkt aus würden sie jeden beobachten können, der sich in der Umgebung von Libertalia herumtrieb. Der junge Mann atmete tief durch. Er wollte Luna gern so vieles erzählen, wusste aber nicht, wo er anfangen sollte.
»Weißt du, wie das Universum geboren wurde?«, kam sie ihm zuvor.
»Sprich!«, bat er. So konnte er ein wenig zur Ruhe kommen, während die Bambusflöten im Hintergrund noch immer ihre eigene Ballade komponierten. Luna setzte sich so hin, dass sie ihm direkt in die Augen sah.
»Vor der Erschaffung der Welt gab es nur ein einziges leeres Wesen«, rezitierte sie. »Und das war die Liebe. Sie war allein. Außer ihr lebte nichts und niemand, bis sie entschied, sich selbst zwei Augen zu schenken. Sie schloss die Lider, und es wurde Nacht. Dann schlug sie sie auf, und es wurde Tag. Bald schuf die Nacht den Mond und der Tag die Sonne. Und in genau diesem Moment, als sie im Abendrot zum ersten Mal gemeinsam am Himmel standen, entdeckten sie ihre ewige Liebe zueinander und schufen so die Zeit des Menschen.«
Sie schwieg. Am Himmel bluteten lilafarbene Strahlen.
»Das ist eine wunderbare Geschichte.«
»Sie schildert die Dinge so, wie sie sich zugetragen haben.«
Matthieu schien sich einen Moment lang in seinen Gedanken zu verlieren. Plötzlich erhellte ein breites Lächeln seine Züge.
»Es hat noch etwas anderes damit auf sich …«, murmelte er.
»Etwas anderes?«
»Die Zeit des Menschen … entstand aus der Liebe zwischen Sonne und Mond … in dem Moment, in dem beide am Himmel standen …
Sonne, deine Strahlen berühren mich nicht …
Das ist die Lösung von Newtons Rätsel …«, flüsterte er ergriffen.
»Was für ein Rätsel?«
»Er meinte damit einen Zeitpunkt.«
»Einen Zeitpunkt?«
»… blinzle in die Dunkelheit wie zum Anbeginn.
Und ich, dein Mond, vergieße Tränen über der Frucht.
Was bist du ohne mein Liebkosen?
Und was kann ich tun, außer zu schreien, wenn du erlischst?
Jeden Tag um dieselbe Zeit!«, rief er aufgeregt aus, »sehen sie einander nur an und bringen die Frucht hervor!« Er ergriff Lunas Hände und drückte sie. »Das ist der Zeitpunkt, an dem wir erschaffen wurden! Ist das der Augenblick der Seele? Der Moment der Melodie?«
»Sieh nur«, entgegnete sie schlicht.
Die Sonne war kurz davor unterzugehen, und am Himmel stand tief der blasse Mond.
»Genau jetzt, an genau diesem Himmel …«
»Nun schauen die beiden einander an!«
»Just in diesem Augenblick lieben sie sich …«
Matthieu konnte es kaum fassen. Er hatte die alchemistische Rätselschrift entschlüsselt. Das Experiment musste in genau diesem magischen Moment ausgeführt werden, in dem der Kosmos im Gleichgewicht war, damit die Melodie ohne Grenzen reisen und bis zum Ursprung Raum und Zeit durchqueren konnte. Warum war ihm das nicht früher in den Sinn gekommen? Der einzige Zeitpunkt, zu dem das Universum die Schwingungen völliger Harmonie erzeugte. Die Theorie über die Musik der Sphären – die während der Treffen bei Mademoiselle de Guise so oft zur Sprache gekommen war – besagte, dass alle Planeten einen vibrierenden Ton produzierten, der durch ihre Entfernung zur Erde bestimmt wurde. In einem bestimmten Augenblick würden all diese Töne gemeinsam die perfekte Synchronie erreichen. So wie die Mathematik folgte auch das kosmische Gleichgewicht gewissen Regeln. Wie in der Natur war auch hier alles miteinander verknüpft.
Matthieu küsste Luna lange. Auch in seinem Leben schien auf einmal alles zusammenzupassen. In einigen Stunden würde er sich auf den Weg in den Senegal machen, und begleiten würde ihn dabei diese Frau, die ihn liebte, die Fleisch gewordene Melodie. Und er hatte sogar die Lösung des Rätsels gefunden, die es Newton ermöglichen würde, das Experiment zu vollziehen. Er war jetzt viel ruhiger und erzählte Luna, wie er in dieses magische Labyrinth geraten war, das ihn schließlich ins Reich der Anosy geführt hatte. Sie erfuhr nun, dass er in Frankreich aufgebrochen war, um hier ihre Melodie niederzuschreiben, einen Schatz aus Noten und Pausen, der seiner Familie das Leben schenken würde. Er verriet ihr auch La Bouches Pläne, schwor ihr jedoch, dass sie mit ihm an ihrer Seite keine Angst zu haben brauchte, da das Schicksal ihnen einen Weg aufgezeigt hatte. Den Weg zu einem Schiff, das sie weit weg bringen würde, fern von allen Gefahren.
Lunas Miene wurde mit
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