Das geheime Lied: Roman (German Edition)
sich ein paar Freudentränen aus den Augen.
»Wir haben jede Sekunde an dich gedacht.« Er musterte seinen Neffen noch einmal von oben bis unten und strich ihm über den Bart, den sich dieser seit der Abfahrt nicht mehr gestutzt hatte. »Lass dich mal anschauen … Du siehst fantastisch aus!«
»Das glaube ich kaum!«
»Na ja, es könnte besser sein.« Beide lachten. »Du musst mir so vieles erzählen …«
»Und Ihr mir auch. Wie steht es um den Rest der Familie?«
»Keine Sorge, es geht allen gut.«
»Habt Ihr etwas von …« – er hielt kurz inne – »von Nathalie gehört?«
Charpentier schüttelte den Kopf.
»Aber du kennst mich doch. Es kann gut sein, dass sie zu all meinen Messen gekommen ist und ich sie nicht einmal bemerkt habe. Ich kann dir kaum beschreiben, wie die letzten Monate hier für uns waren.«
Matthieus Miene wurde ernst.
»Haben sich Jean-Claudes Mörder noch einmal mit Euch in Verbindung gesetzt?«
»Nein.«
»Und die Polizei? Hat sie etwas herausgefunden?«
Charpentier schüttelte wieder den Kopf und sprach mit bitterer Stimme.
»Polizeipräfekt de la Reynie hat keinen Finger krumm gemacht. In letzter Zeit widmet er sich mit aller Kraft der Aufklärung eines neuen Falles, in dem es um Giftmorde unter Adligen geht. Er ist nur auf schnelle Ergebnisse aus, die seinen Ruhm noch vermehren.«
»Dabei können wir ihm bald behilflich sein.«
»Was willst du damit sagen?«
»Das erkläre ich Euch später.«
Der Komponist konnte den Blick gar nicht von dem jungen Mann abwenden.
»Du wirkst so anders … wie eine Blume, die endlich voll erblüht ist.«
»In Afrika sagen die Weisen, dass nur die Zweige Blüten tragen, die ihre Wurzeln ehren.« Überrascht und stolz lachte Charpentier erneut. »Meine Reise war auch nicht einfach«, fuhr Matthieu fort und schüttelte nun endlich ein wenig von der Anspannung ab, die sich in ihm aufgestaut hatte. »Ich musste mich dem schrecklichsten Ungeheuer stellen, das die menschliche Rasse hervorgebracht hat, ich habe den Niedergang Libertalias miterlebt …«
»Libertalia?«
»Die Utopie, von der wir alle träumen.« Matthieu sah sich nach beiden Seiten um. »Und das Unglaublichste daran ist, dass ich jetzt in das wahre Leben zurückkehre und es mir doch fremder ist als die Tage auf Madagaskar.«
»Du wirkst wirklich wie ein anderer Mensch.«
»Und da ist noch etwas.«
»Sag schon!«
»Ihr wisst doch, dass man für eine Harmonie zwei Töne braucht.«
Charpentier verstand sofort, was sein Neffe damit meinte. Die beiden beugten sich über das Geländer, und Matthieu deutete auf Luna. Sie schritt sittsam den Mittelgang entlang und schaute zum Altar hinüber.
»Wie schön sie ist!«
»Und Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie ich mich an ihrer Seite fühle.«
»Aber sie ist so ganz anders …«, brachte sein Onkel schließlich hervor. »Wo hast du sie kennengelernt?«
»Sie ist die letzte Hüterin der Stimme.«
»Die Priesterin?«
Luna sah herauf. Matthieu lächelte ihr zu.
»So hat es sich eben ergeben.«
Charpentier stieß ein nervöses Lachen aus.
»Newton wird seinen Augen nicht trauen!«
»Ist er hier in Paris?«
»Schon seit zwei Wochen. Er hat immer darauf vertraut, dass du rechtzeitig zurückkommen würdest.« Charpentier betrachtete Luna aus der Ferne. »Wirklich ein faszinierendes Wesen …«
»Erinnert Ihr Euch noch an die Legende, von der Ihr mir bei Eurem Besuch in der Bastille erzählt habt? ›Aber in Wirklichkeit war die Seele selbst das Lied‹«, rezitierte der Geiger. »Ich weiß jetzt, was das bedeuten soll. Das irdische Leben ist so voller Reichtümer, dass selbst eine frei geborene Seele beschloss, sich in einen Körper aus Lehm einschließen zu lassen, nur um die Welt in all ihren Facetten wahrnehmen zu können. An Lunas Seite erkenne ich die Dinge nun in all ihrer Pracht. Alles ist im Fluss, und zwischen meinen Fingern entlädt sich ein Feuerwerk der Musik …«
Charpentier umarmte ihn erneut. Unten stand Luna neben dem Altar und strich mit dem Finger über das Wachs an einem Kerzenständer.
»Stimmen Newtons Behauptungen über die Hüterinnen der Stimme?«, fragte der Komponist vorsichtig. »Hast du sie singen hören?«
Matthieu wühlte in seinem Beutel herum und zog eine Partitur hervor.
»Während der Fahrt hatte ich Zeit, ihr Lied niederzuschreiben. Und zwar mit absoluter Genauigkeit, keine Sorge!«
Charpentier griff andächtig danach.
»Willst du damit sagen, was ich hier vor mir habe, ist
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