Das geheime Lied: Roman (German Edition)
dass die Luft nicht erstarb, sobald sie unsere Lungen erreichte. Sie hatte die Verbindung aller Elemente des Kosmos und sein ständiges Vibrieren auf der Suche nach allumfassender Harmonie schon bei der Geburt begriffen.
Matthieu lief in die Kabine zurück, um Notenblätter zu holen. Die Seeleute kämpften mit der Takelage. Der Wind hatte gedreht, und sie mussten schnell handeln, damit der Druck auf die Segel nicht zu groß wurde und womöglich noch der Hauptmast brach. Der Musiker griff nach Lunas Hand, und sie kauerten sich unter das Treppchen, das zur Kommandobrücke führte. Und dort, an die Priesterin geschmiegt, als wären sie eins, begann er, das Unwetter auf einem Notenblatt zu notieren. Den Donner hielt er als Pauken fest, die tausend Regentropfen wie ein Glockenspiel, und der Wind, der Herrscher der Meere, wurde mal zum hellen Ton einer Geige in Höchstspannung, mal zu trägen Violoncelli, in deren Klang sich jenes leidenschaftliche Adagio wiegen konnte.
Als er den Blick vom Papier hob, spürte er, dass sein Herz endlich wieder in dem Rhythmus schlug, der sein Leben wirklich bewegte und den er mit dem plötzlichen Tod seines Bruders verloren hatte. Ohne groß darüber nachzudenken, streckte er die Hand mit der Partitur hinaus in den Regen und wartete, bis die nächste große Welle, die das Deck überspülte, sie mit sich riss.
Von dieser Nacht an nannten die Seeleute ihn den »Komponisten der Stürme«.
DRITTER AKT
1
I hr Wagen rumpelte die Rue Saint-Antoine in Richtung Saint-Louis-Kirche entlang. Aufgewühlt betrachtete Luna die Welt jenseits des Kutschenfensters. Die Erde der Anosy duftete nach einer gelben Blume, deren Blütenstempel an den Fingerspitzen kleben blieben, am Ufer der Seine roch es hingegen nach feuchtem Stroh und abgestandenem Wasser. Sie drückte Matthieu die Hand, schloss die Augen und beschwor in Gedanken die Stimme ihrer Mutter herauf. Sie stellte sich gerne vor, sie an ihrer Seite zu haben und ihrer Geschichte vom Vogel mit kleinen Flügeln zu lauschen.
Der Geiger hielt es kaum noch aus. Bis zur Tagundnachtgleiche im März waren es noch zwei Tage, und der Gedanke an die Gefahr, in der die Seinen schwebten, schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte unbedingt mit Onkel Charpentier sprechen, sich vergewissern, dass es sowohl ihm als auch seinen Eltern gut ging, und ganz genau in Erfahrung bringen, was in seiner Abwesenheit alles geschehen war.
Sie kamen vor dem Gotteshaus zum Stehen. Matthieu verspürte eine gewisse Benommenheit. Auf den Stufen waren noch die Reste von Jean-Claudes Blut zu erahnen. Der junge Mann stieg mit Luna aus der Kutsche und stand einige Minuten schweigend gedankenverloren da.
»Ich höre ihn nicht spielen«, murmelte er besorgt. »Um diese Zeit müsste er doch eigentlich hier sein.«
Dann betrat er eilig die Kirche und riss die kleine Tür zur Wendeltreppe in den ersten Stock auf. Er nahm immer drei Stufen auf einmal und erreichte bald den Balkon, auf dem die Orgelpfeifen thronten.
Das Instrument stand jedoch verwaist da.
Er strich mit der Hand über die Tastatur.
»Wo seid Ihr nur?«, flüsterte er.
Dann beugte er sich über das Geländer und ließ den Blick suchend durch den Innenraum schweifen, der in Weihrauchdunst und das unheimliche Licht getaucht war, das durch die Kirchenfenster hereinfiel. Bettler teilten sich ein Stück trockenes Brot, eine Nonne überquerte die schwarz-weißen Kacheln, und mehrere Priester standen neben einem Beichtstuhl beisammen und sprachen leise miteinander.
»Dieses verdammte Teil!«, hörte er auf einmal jemanden fluchen.
Ergriffen ging er um die Orgel herum und entdeckte den Komponisten zusammengekauert hinter dem Instrument. Er versuchte gerade, eine hölzerne Leiste in die richtige Position zu schieben, und hatte nicht einmal bemerkt, dass jemand heraufgekommen war.
»Warum lasst Ihr mich das nicht machen?«, fragte Matthieu und grinste von einem Ohr zum anderen.
Charpentier erkannte die Stimme seines Neffen augenblicklich. Er kroch auf allen vieren zurück und richtete sich auf. Dann betrachtete er Matthieu einen Moment, bevor er ihn in die Arme schloss.
»Mein kleiner Amadis de Gaule …«, murmelte er gerührt.
»Ich bin zurück.«
»Dabei hatte ich schon gedacht, du würdest nie wieder …«
Er löste sich von dem jungen Mann, um ihn anzusehen.
»Und meine Eltern?«
»Es geht ihnen gut.«
Erleichtert atmete Matthieu aus.
»Das Schlimmste war, keine Nachricht von dir zu haben.«
Der Komponist wischte
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