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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Polsterer, Harfenbauer und Schuhmacher. Newtons Unterkunft stand direkt neben einer völlig überfüllten Taverne. Charpentier verbarg das Gesicht in seinem Umhang, weil er befürchtete, von einem der Edelmänner wiedererkannt zu werden, die dort verkehrten. Sie kamen wegen der Weine aus Burgund, die der Sonnenkönig so gerne trank, der Wirt schenkte aber auch andere Sorten aus, um seine Kunden zu beeindrucken, wie zum Beispiel den exquisiten Rebensaft aus einer Gegend des spanischen Ebrotals. Onkel und Neffe stiegen die schmutzige Treppe hinauf. Bei dieser hohen Luftfeuchtigkeit fühlte sich alles klebrig an.
    »Wer da?«, rief eine Stimme aus dem Inneren, als Charpentier an die Tür klopfte.
    »Ich bin es! Und ich habe noch jemanden mitgebracht, der Euch sehr gerne kennenlernen würde.«
    »Wen?«
    »Meinen Neffen Matthieu. Er ist endlich zurückgekehrt.«
    Nach kurzem Schweigen war ein dumpfes Husten zu vernehmen. Zunächst quietschte ein Riegel düster, und dann bot sich ihnen ein unerwarteter Anblick: Mit schweißnassem Antlitz und schwarzen Fingernägeln tauchte der Wissenschaftler aus einer Schwefelwolke auf und umklammerte misstrauisch die Tür.
    »Ist noch jemand bei Euch?«
    »Natürlich nicht«, knurrte Charpentier und schob sich an ihm vorbei ins Innere des Raumes.
    Sie schlossen die Tür hinter sich. Der Holzfußboden knarrte bei jedem Schritt. Das Licht, welches durch das schmutzige Fenster zum Kanal hereinfiel, konnte den Raum kaum erhellen. In der hinteren Ecke flackerte die Flamme des Schmelzofens. Newton schlief selten mehr als vier Stunden am Stück und hielt das Feuer Tag und Nacht in Gang. Im ganzen Zimmer waren alchemistische Utensilien ausgebreitet, und weitere stapelten sich auf dem Tisch, auf dem auch zwei aufgeschlagene Bücher lagen: Atalanta Fugiens , die hermetische Abhandlung, mit der Dr. Evans Charpentier bei den Treffen im Palais von Mademoiselle de Guise geködert hatte, und Georgius Agricolas De re metallica , ein zerfledderter Band, der die praktischeren Aspekte der Metallumformung behandelte.
    Matthieu stellte sich dem Wissenschaftler ungezwungen vor mit einer gewissen Vertraulichkeit, die er sich angesichts eines Menschen von solch hohem Rang niemals zugetraut hätte. Trotz des gelblichen Hemdes, in dem er seit zwei Wochen vor sich hin geschwitzt hatte, bewahrte sich Newton seine distinguierte Haltung und antwortete ihm auf ebenso gewandte wie jeglicher Sympathie entbehrende Art und Weise. Vom ersten Moment an konnte Matthieu auf seinem Gesicht die innere Unruhe desjenigen erkennen, der ständig auf der Suche ist und deshalb allem mit Feindseligkeit begegnet.
    Er zog die Partitur aus seiner Tasche. Anstatt begierig danach zu greifen, vermied es der Engländer sogar, sie auch nur von weitem in Augenschein zu nehmen. Stattdessen durchbohrte er Matthieu mit Blicken.
    »Glaubst du etwa, dass ich das wegen des Goldes tue? Hältst du mich für einen erbärmlichen Kohlenbrenner?«, fragte Newton ihn auf einmal. Er spielte damit auf die traditionellen Alchemisten an, denen spirituelles Streben fern war und die all ihre Anstrengungen darauf verwendeten, einst mit ansehen zu können, wie Blei zu funkeln beginnt.
    Der junge Musiker nahm sich einen Moment Zeit, um seine Antwort zu formulieren.
    »Meiner Meinung nach wollt Ihr Euch vor allem selbst beweisen, dass Ihr in der Lage seid, in dieser Sache bis zum Schluss weiterzumachen.«
    Newton sah Charpentier an.
    »Woher habt Ihr diesen Jungen bloß?«
    »Warum konzentrieren wir uns nicht darauf …«
    »Das ist die beste Antwort, die man mir hätte geben können«, unterbrach ihn der Engländer und klang zum ersten Mal nicht mehr so verbittert. Dennoch wandte er sich immer noch mit einer gewissen Herablassung an Matthieu: »Wenn ich dieses Experiment erfolgreich ausgeführt habe, werde ich mit Stolz verkünden können, dass ich nun Gottes Pläne begreifen kann, und du wirst daran deinen Anteil gehabt haben. Ich stehe kurz vor dem letzten Schritt auf dem Weg zum Stein der Weisen! Endlich werde ich das letzte Kapitel meines Index Chemicus vollenden und all die Stümper zum Schweigen bringen!«, rief er aus. Die erwähnte Schrift war sein ehrgeizigstes alchemistisches Werk.
    Dann griff er doch nach der Partitur und analysierte sie sorgfältig.
    Von Anfang an war Matthieu aufgefallen, welch widersprüchliche Gegensätze den Wissenschaftler quälten: Seine geniale Fähigkeit zur experimentellen Analyse ging mit einem zornigen Mystizismus einher,

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