Das geheime Lied: Roman (German Edition)
schmiegte sich an den ihren, er schob die Beine in ihre Kniekehlen und fuhr mit den Lippen über ihren warmen Hals.
Einen Moment lang glaubte er, Luna hätte zu singen begonnen.
»Die Stimme …«, flüsterte er. Sie drehte sich zu ihm, um ihn anzusehen. »Ach nichts. Ich dachte, es wäre deine Stimme … Dabei ist es nur das Brausen von draußen.«
Er dachte zurück an die Nacht vor seiner Ankunft auf Madagaskar, als er zum ersten Mal ihren Gesang vernommen hatte. Nun schien er jenen unbarmherzigen Sturm noch einmal zu durchleben. Wie damals krängte das Schiff auch dieses Mal heftig. Er konnte nicht schlafen, nicht einmal die Augen schließen. Stimmen, Pfeifen, Murmeln, Schreie und Knattern riefen ihn von draußen, drängten sich rücksichtslos in seinem Schädel, und er verspürte wieder die stechenden Ohrenschmerzen, und zwar stärker als je zuvor. Er war völlig besessen von der Idee herauszufinden, welcher all dieser Laute ihm so zusetzte, dass er bald verrückt dabei wurde. Es geschah jedoch dasselbe wie beim letzten Mal, er empfand das Gleiche wie beim Anblick der Grabanlage nahe Fort Dauphin, auf dem Schiffsfriedhof von Sainte Luce oder in der Beschneidungshütte im Dorf des Usurpators. Er war doch immer dazu in der Lage gewesen, Geräusche zu analysieren und den Ursprung auch der kleinsten Frequenz zu ergründen. Warum gelang es ihm jetzt nicht mehr? Als er es nicht länger aushielt, richtete er sich, so gut er konnte, auf, hielt sich an der Schott fest und rutschte auf die Bettkante.
»Dein Inneres ist ja aufgewühlter als die See«, bemerkte Luna.
»Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.« Er fasste sich an die Schläfen. »Mir platzt noch der Kopf.«
»Hör auf, dagegen anzukämpfen«, bat sie ihn, nahm ihn in den Arm und blies ihm sanft ins Ohr wie eine Mutter, die auf die Wehwehchen ihres Kindes pustet, damit es zu weinen aufhört.
Matthieu widersetzte sich dem Schmerz nicht länger, und auf wundersame Weise wurde dieser damit langsam erträglicher, und der Druck verminderte sich. Obwohl das Unwetter nun am heftigsten wütete, kehrte in seinem Verstand wieder Ruhe ein, und er begriff nach und nach, was hier geschah. Als er es endlich erfasst hatte, riss er die Augen weit auf. Der Musiker richtete sich auf und spitzte erneut die Ohren. Was er da hörte, waren gar keine einzelnen Geräusche! Es war eine Summe, ein allumfassender Gesamtton, und genauso musste man ihm auch lauschen. Da draußen bot sich ihm ein einziges wiederholtes Pulsieren von Meer und Wolken, ohne jeden Verstand, aber im völligen Gleichgewicht!
Er hatte ihn wiedergefunden, den Puls, den Herzschlag …
Rasch sprang er auf die Beine und lief an Deck. Dort musste er sich mit aller Kraft festhalten, um nicht von den Wellen mitgerissen zu werden, die das Schiff heimsuchten, er empfand jedoch keine Angst, sondern unendliche Verzückung. Es war für ihn wie eine Erleuchtung. Seit er Lunas Melodie in sich trug, nahm er die Welt auf ganz neue Art und Weise wahr: Er hörte nicht mehr jedes einzelne Geräusch, sondern alle Töne gemeinsam, wie Instrumente, die sich zu einer Symphonie zusammenfügten. »Fang den Puls der Paradiese und Höllen ein und gieß in dieses Partitur, was Gott hinter dem Horizont geschaffen hat«, hatte sein Onkel vor seiner Abfahrt zu ihm gesagt. Und er durchlebte gerade den Höhepunkt dieser Erfahrung. Bislang hatte er sein Dasein damit verbracht, Geräusche auseinanderzupflücken und jedem einzelnen auf den Grund zu gehen, ohne je zu begreifen, dass sie ihre ganze Fülle nur dann erreichten, wenn sie brüderlich vereint und aufeinander angewiesen waren. Er hörte dabei zu, wie der Wind die Taue pfeifen ließ und eine Partitur malte, auf dem der Regen seine Melodie notierte, begleitet vom wilden Fauchen der Segel, die in verschiedene Richtungen strebten. In der Brust verspürte er den verstörenden Takt der Wellen, die unablässig gegen den Bug schlugen. Er hob den Blick gen Himmel und begriff, dass jeder Blitz den Beginn einer neuen Phrase markierte und der Donner sie zum Abschluss brachte, indem er diese großartige Konzerthalle mit einem Paukenschlag erdröhnen ließ.
Matthieu presste die Zähne aufeinander und ballte die Hände zur Faust. Er zitterte vor Kälte, hatte sich aber noch niemals so gut gefühlt.
Luna trat hinter ihm an Deck.
Der Geiger lachte laut.
»Kannst du es hören?«
Sie lächelte und nickte. Sie wusste, dass dieser Ozean, auf dem sie fuhren, mehr war als nur Wasser und Salz und
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