Das geheime Lied: Roman (German Edition)
zurück, um dich ihre unheimlichen Gesänge zu lehren …«
»Vergiss es aber bitte nicht …«
Pierre schloss die Augen. Luna kam heran, um Matthieu zu umarmen. Einen Moment lang betrachteten sie die Körper der beiden alten Freunde, des Kapitäns der Fortune und seines Bordarztes, in ihrem Grab aus schwarzem Stein inmitten dieses Ozeans, auf dessen Wassern sie ihre besten Tage verlebt hatten.
Sie liefen zum Ausgang der Höhle. Der Wind peitschte ihnen ins Gesicht. Matthieu konnte in der Brust spüren, wie die Wellen draußen an der Klippe zerschellten. Vor ihnen erstreckte sich unendlich und dunkel das Smaragdmeer wie eine Tür zurück in ein Leben, in dem nichts mehr so sein würde wie zuvor. Vom Kai her war das Echo des Todes zu vernehmen. Die Eingeborenen zündeten auch das letzte Haus der Siedlung an, und man hörte noch vereinzelt Schüsse. Die meisten Schiffe im Hafen waren fertig zum Auslaufen. Matthieu sah, wie sich alle Segel zugleich entfalteten, während jemand den Befehl gab, die Anker zu lichten. Es war zu spät. Er umarmte Luna heftig.
»Wie kann ich dich jetzt bloß beschützen?«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein Umriss aus dem Dunkel auftauchte. Es war der Griot, der mit all seiner Kraft versuchte, auf dem mit Schaumkronen besetzten Wasser sein kleines Boot unter Kontrolle zu halten.
23
M atthieu blieb an Deck stehen, bis die Dunkelheit in der Ferne den letzten Feuerschein verschluckte. Die Piraten erzählten sich gegenseitig, was sie erlebt hatten. Einer von ihnen berichtete, wie Caraccioli auf der Mole gefallen war. Dem Seeräuber zufolge hatten Misson und er für die wenigen Überlebenden die Abfahrt der letzten Boote organisiert, sobald ihnen klar geworden war, dass sie nichts weiter gegen die Angreifer tun konnten. Der Priester hatte die Ruderer einen Moment warten lassen, um noch einen Jungen zu retten, der am anderen Ende des Kais mit einem Eingeborenen kämpfte. Auf einmal hatte ihn eine Gruppe Krieger umringt, die die letzte Barrikade überwunden hatte. Der Piratenpriester hatte sich ihnen mutig entgegengestellt und mehrere Männer getötet, bevor eine Machete ihm die Kehle durchtrennte.
Matthieu brannte darauf zu erfahren, was mit Misson geschehen war. Die Piraten schienen es aber nicht zu wagen, von ihm zu sprechen. Schließlich erzählte der älteste von ihnen mit hängendem Kopf, was er auf der Fahrt durch die Bucht von seinem Boot aus gesehen hatte: Der Kapitän war als einziger Überlebender auf dem Kai zurückgeblieben, wo ihn nach und nach Hunderte von Eingeborenen umringt hatten. Plötzlich waren die Krieger jedoch unerklärlicherweise erstarrt, als aus Missons rechtem Auge wahre Blutstränen zu fließen begannen, die sich über seine Tätowierung ergossen.
»Wen schert das jetzt noch?«, unterbrach ihn ein Schauermann und wandte sich dann an Matthieu: »Geht nun endlich unter Deck, oder Ihr fallt noch von Bord. Dieses Unwetter wird immer schlimmer!«
War ihm das Ende Libertalias wirklich egal?, fragte sich der Musiker. Sie würden bald das Kap der Guten Hoffnung umrunden und wieder in Sichtweite des Kontinents fahren, seine wilden Urwälder betrachten können, die die Strände überwucherten, unüberwindliche Steilwände und riesige Dünen, die ihren orangefarbenen Sand ins Meer ergossen. Und ehe sie sichs versahen, würden sie schon in Senegal an Land gehen, der Griot würde zu den Diola zurückkehren, um sich mit seinen Brüdern zusammenzuschließen und gegen die Menschenhändler zu kämpfen, während Luna und er nach Gorée übersetzen würden, wo sie dem Wachmann nur den Passierschein des Königs zeigen mussten, um das nächste Schiff in Richtung La Rochelle besteigen zu können. War Libertalia denn schon so weit entfernt, dass man es einfach der Vergessenheit anheimgeben sollte? Würden ihre Füße in Paris etwa nicht dieselbe Erde berühren, die auf der anderen Seite der Welt Madagaskar hieß, und nicht dieselbe Luft ihre Lungen erfüllen, die die Hüterinnen der Stimme seit Jahrhunderten geatmet hatten, ebenso wie jeder von Ambovombe ermordete Anosy und jeder der Piraten, die Missons Traum gelebt hatten?
»Mich schert es schon«, erwiderte er, bevor er sich in seine Kajüte zurückzog.
Luna hatte sich auf der Pritsche zusammengerollt. Sie zitterte. Matthieu spürte die Schläge der Wellen gegen den Rumpf des Schiffes, das Holz ächzte so laut, als würde es jeden Augenblick zerbersten. Er legte sich neben sie und umarmte sie fest. Sein Körper
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