Das geheime Lied: Roman (German Edition)
beschleunigtes Erblühen, seiner Meinung nach war der Frühling für seine Arbeit daher immer schon die fruchtbarste Jahreszeit.«
»Was zum Teufel hat dieser 20. März bloß an sich?«, rief der Schreiber aus. »Der König ist von diesem Datum auch völlig besessen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Übermorgen wird ein Ereignis stattfinden, das er schon seit Monaten herbeisehnt.«
Matthieu hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach.
»Was für ein Ereignis?«
»Die Einweihung des riesigen Spiegelsaals, der die beiden Flügel des Palastes verbindet.«
»Ein Fest in Versailles …«
»Ganz Europa weiß davon. Man erzählt, die Wände der Galerie seien mit fast vierhundert Spiegeln bedeckt worden, und Charles Le Brun höchstpersönlich habe die Decken bemalt«, informierte der Schreiber ihn. Le Brun war einer der berühmtesten Künstler der Gegenwart.
»Und wenn das Äquinoktium gar nichts damit zu tun hat und die Mörder uns nur verwirren wollten?«
»Was willst du damit sagen?«
»Warum hat der König ausgerechnet dieses Datum für die Einweihung gewählt?«
»Dafür gibt es eine Erklärung«, mischte Charpentier sich ein. »An diesem Tag ist die Distanz beider Pole der Erde zur Sonne gleich, der Planet ist also perfekt ausbalanciert. Der König will seine Spiegel genau in dem Moment enthüllen, in dem die Strahlen direkt auf ihre Oberfläche fallen. Stell dir den Anblick doch nur vor … Sie werden den Glanz der Sonne in all ihrer Herrlichkeit zurückwerfen und die Gärten in ein magisches Funkeln tauchen.«
»Und dennoch glaube ich nicht, dass es sich bei dieser Übereinstimmung der Daten um einen Zufall handelt«, überlegte Matthieu.
»Woran denkst du?«
»Wir müssen so schnell wie möglich mit Newton sprechen«, erwiderte er ohne weitere Erklärung. »Wo ist er untergebracht?«
»In einem Haus auf der Saint-Michel-Brücke, das ich für ihn gemietet habe.«
»Dann lasst uns aufbrechen«, bat Matthieu seinen Onkel.
»Ihr geht zur Handwerkerbrücke?«, fragte der Vater.
»Newton nutzt die Räumlichkeiten eines Buchhändlers, der in die Rue de la Harpe umgezogen ist. Er hat sich dort am ersten Tag mit all seinen mitgebrachten Instrumenten eingeschlossen und das Haus seitdem nicht mehr verlassen.«
»In dem Viertel wimmelt es doch zu jeder Tages- und Nachtzeit von Menschen. Wäre es nicht besser, ihr würdet euch an einem anderen Ort mit ihm treffen?«
»Die Brücke ist perfekt«, widersprach ihm Matthieu.
Er sah zum ersten Stock hinauf. Dort stand Luna noch immer am Fenster, die Arme schützend vor der Brust verschränkt, und presste die Stirn ans Glas.
Danach lasse ich dich dann nie wieder allein, dachte der Musiker und wusste, dass sie ihn mit einem einzigen Blick verstehen würde.
Sie liefen die Rue des Grands Augustins bis zum Pont Saint-Michel entlang, einer Brücke, die die Außenbezirke der Stadt mit der Île de la Cité verband. Einen Moment lang labte sich Matthieu am Anblick der Türme von Notre-Dame, die zwischen den dicht gedrängten Dächern zu sehen waren. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er wirklich wieder in Paris war. Jetzt war Nachmittag, und die Kais quollen nur so über vor Kutschen und Fußgängern, die kamen und gingen. Die Händler warteten an den Stufen zum Fluss, um Warenbündel aus den Kähnen entgegenzunehmen. Der Wasserpegel der Seine war gesunken, daher wurden die Pferde zum Saufen vom schlammigen, mit Unrat übersäten Strand eine Rampe hinuntergeführt.
»Da ist es, sein Fenster ist das erste über dem zweiten Bogen«, erklärte Charpentier.
Die alte Holzkonstruktion hatte jahrhundertelang unter häufigen Bränden und Einstürzen gelitten, daher war die Brücke schließlich aus Stein ganz neu erbaut worden. Ihre drei mächtigen Pfeiler mussten nicht nur das Gewicht der Brückenbogen selbst und der Menschen darauf tragen, sondern auch das der Backsteinhäuser, die sich darauf rechts und links aneinanderreihten und deren Außenwände hoch über dem Kanal aufragten. Newton bewohnte ein Zimmerchen in einem Haus auf der Westseite. Wie er dem Komponisten bei der Suche nach einer Unterkunft erklärte hatte, betrachtete er den Sonnenuntergang lieber als den Sonnenaufgang.
Unterwegs stiegen ihnen der scharfe Geruch aus der Färberwerkstatt und der Gestank der Radierungen eines Graveurs in die Nase. Wie Matthieus Vater bereits erwähnt hatte, arbeiteten in den Häusern auf der Brücke vor allem Handwerker verschiedenster Berufe: Goldschmiede, Parfümeure,
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