Das geheime Lied: Roman (German Edition)
der ihn dazu anspornte, in der hermetischen Tradition nach Antworten zu suchen. Gleichzeitig wurden diese Eigenschaften von einer unersättlichen Eitelkeit und Selbstverherrlichung begleitet, die ihn Schmeichelei als lebensnotwendigen Antrieb akzeptieren ließen.
Um die Stimmung ein wenig freundlicher zu gestalten, verlieh Matthieu seinen Zweifeln Ausdruck: »Als mein Onkel mir in der Bastille zum ersten Mal von Euch erzählte, war es mir unbegreiflich, wie Ihr in zwei scheinbar so unterschiedlichen Welten leben könnt. Für die meisten Wissenschaftler ist die Alchemie ein Lügenmärchen aus dunkelster Vorzeit.«
»Stör mich jetzt nicht«, schnitt ihm der Engländer kalt das Wort ab, ohne den Blick vom Notenblatt abzuwenden.
Mit einer Geste ersuchte Charpentier seinen Neffen um Schweigen.
»Seht mich an, wenn Ihr mit mir sprecht«, widersetzte sich dieser der Bitte seines Onkels. »Ihr solltet niemals vergessen, dass ich es war, der um die halbe Welt gereist ist, um Euch diese Partitur zu bringen.«
Verblüfft wandte Newton sich zu ihm um. Er sah ihn einen Moment lang nachdenklich an.
»Tatsächlich durchzieht Alchemie meine Wissenschaft und umgekehrt«, erklärte er schließlich. »Doch wo hört die eine auf, und wo beginnt die andere? Schau dir nur die Schlussfolgerungen in meinen Abhandlungen über Optik an. Sind die Veränderungen des Lichtes auf Gegenständen und der Gegenstände durch Licht etwa keine Umwandlung in ihrer reinsten Form? Und die ganze Natur ist davon erfüllt! Sieh doch nur!« Er zog Matthieu am Arm zum Fenster hinüber. »Der Schöpfer hat eine lebendige Umwelt erschaffen. In diesem Kosmos steht alles mit ihm und untereinander in Verbindung, gleichzeitig verändern sich die Elemente aber auch ständig und pendeln zwischen Perfektion und Verfall hin und her! Alles hängt davon ab, wie sich ihre essenziellen Partikeln organisieren, in denen die Universalmaterie steckt, die allen gemein ist.«
»Alles ist miteinander verbunden«, murmelte Matthieu verwundert vor sich hin. »Und es steckt eine Universalmaterie in allem … Wollt Ihr damit etwa sagen, dass alles, was ich sehe, ein winziger Bestandteil von Gott ist?«
Newton schüttelte den Kopf.
»Die Welt kann nicht als ein Teil von Gott angesehen werden. Er ist ein einheitliches Wesen, ganz Auge, ganz Ohr, ganz Verstand, voller Kraft, um zu fühlen, zu verstehen und zu handeln, und das alles auf eine Art und Weise, die nichts mit dem menschlichen Dasein zu tun hat. Ich will sagen, Matthieu, dass alles göttlichen Regeln unterliegt, die er zu Beginn der Zeiten festgelegt hat. Denk doch nur an unser Sonnensystem, an die Planeten und Kometen. Sind so viel Ordnung und Schönheit nicht überwältigend? Warum kollidieren die Sterne nicht? Wir sind Teil eines brüderlichen Universums. Dieselben Gesetze, die die Anziehungskraft dieser riesigen Himmelskörper steuern, lassen sich auch auf die winzigen Universalpartikeln übertragen, die sich gleichfalls anziehen und sich in Millionen verschiedener Kombinationen zusammenfügen, um Millionen von Formen und Körpern zu bilden. Was würdest du denken, wenn ich dir jetzt sage, dass ich die Grundlagen der Allgemeinen Gravitation entwickelt habe, als ich für die Herstellung des Steins der Weisen die Magnetkraft des gesternten Antimons untersuchte?«, verriet der Wissenschaftler. Bei dem erwähnten Element handelte es sich um ein kristallisiertes Mineral, welches er bei seinen alchemistischen Prozessen verwendete.
»Und ich dachte, das hätte etwas mit einem Apfel zu tun, der vom Baum fiel.«
»Hältst du mich für so naiv? Ich werde bestimmt nicht hinausposaunen, woher meine Erkenntnisse über die Schwerkraft oder andere wissenschaftliche Fragen wirklich stammen. Und außerdem«, fügte er hinzu, »wollen die Sterblichen Äpfel und keine komplizierten Analysen, die sie ja doch nie verstehen würden.«
Er hustete wieder. Zweifellos fraßen die Dämpfe aus dem Destillierkolben, die er den ganzen Tag einatmete, ihn von innen her auf.
»Und hat der Stein der Weisen wirklich all die Eigenschaften, die man ihm zuschreibt?«
Newton konnte ein Glitzern in den Augen nicht verbergen.
»Der Stein ist nur ein Hilfsmittel. Wer die Gesetze des Schöpfers befolgt, kann durch den Stein die Natur nach eigenem Gutdünken umgestalten. So wie man Gold aus anderen Metallen gewinnt, indem man seine essenziellen Partikeln isoliert, sie in ihr ursprüngliches Chaos zurückwirft und dann neu zusammensetzt, so kann man
Weitere Kostenlose Bücher