Das geheime Lied: Roman (German Edition)
Verurteilung reicht das nicht.«
»Wie bitte?«
»Verdammt noch mal, wir reden hier von einer Adligen! Könnt Ihr Euch vorstellen, welch lückenloser Beweisführung es bedarf, um so eine Dame köpfen zu lassen? Der anklagende Zeigefinger eines räudigen Meuchelmörders, der nicht einmal ihren Namen kennt, wird niemanden überzeugen.«
»Aber …«
»Viele Frauen von Stand sind mit Richtern verwandt! Ohne handfeste Beweise wird das Parlament den Fall nicht einmal vor Gericht zulassen.« Er wandte sich zum Schreiber um. »Ich will nicht länger darüber diskutieren!«
Matthieu ließ sich jedoch nicht abwimmeln: »Dann müssen wir uns eben etwas anderes überlegen.«
Er bat seinen Onkel um die Partitur.
»Was willst du damit anfangen?«
»Sie dem Gefangenen geben.«
Und genau das tat er auch.
Charpentier und Newton trauten ihren Augen kaum.
»Aber …«
»Keine Sorge, dann schreibe ich sie eben noch einmal auf.«
»Was willst du damit erreichen?«
»Lasst ihn frei«, bat er den Polizeipräfekten.
»Seid Ihr verrückt?«
»Ich weiß, wie wir diese Frau entlarven können, aber dazu muss sie davon überzeugt sein, dass ihr Plan aufgegangen ist. Dieser Mann soll ihr die Partitur aushändigen und ihr erklären, dass der Überfall nicht so glattgegangen ist wie erwartet. Deshalb seien außer ihm alle Beteiligten ums Leben gekommen. Soll er doch sein Geld bekommen und Paris verlassen.«
»Hört den Burschen an«, flehte der Gefangene, der seine Chance witterte. »Ich werde es genau so tun, wie er gesagt hat!«
Newton trat eilig an Matthieu heran, packte ihn am Arm und zog ihn beiseite.
»Ich werde nicht zulassen, dass du ihnen meine Partitur gibst«, knurrte er und versuchte, seine Stimme zu dämpfen.
»Eure Partitur?«
»Wenn du die Mörder deines Bruders zur Strecke bringen willst, musst du schon einen anderen Weg finden. Das ist mein Experiment!«
»Ohne das Rätsel sind die Noten nichts wert!«, flüsterte Matthieu ihm ins Ohr.
»Wie bitte?«
»Die alchemistischen Verse. Ohne die Auflösung wird ihnen die Partitur nicht weiterhelfen. Weder ihnen noch Euch.«
Der Wissenschaftler war sprachlos.
»Willst du damit etwa sagen, dass du die Lösung gefunden hast?«
Diese Zeilen geben den Zeitpunkt vor, an dem mit dem Experiment begonnen werden muss, hätte Matthieu ihm am liebsten in diesem Moment verraten, sie bestimmen den Augenblick, in dem Ihr nach den Vorgaben den Ofen anwerfen müsst! Stattdessen wandte er sich von dem Wissenschaftler ab und bat seinen Vater, den Polizeipräfekten dazu zu überreden, dass er den Gefangenen tatsächlich freiließ.
»Bist du sicher, dass du das Richtige tust?«
»Nein, aber wir haben leider keine andere Wahl.«
Der Schreiber drückte ihm die Hand wie früher, als er noch ein Kind war.
»Lass uns nach Hause gehen. Luna wartet auf dich.«
3
C harpentier und Newton brachen augenblicklich nach Versailles auf. Sie mussten Minister Louvois davon in Kenntnis setzen, dass Matthieu zurückgekehrt war, und in einem versteckten Winkel des Palastes ihre Instrumente aufbauen, um dort im Schutz der Palastwache das Experiment ausführen zu können. Den König würde es mit Genugtuung erfüllen, sie während der Herstellung des Steins in seiner Nähe zu wissen. Matthieu bestand darauf, dass die zwei sich so wenig wie möglich sehen ließen. Nach Möglichkeit sollte man die beiden Männer und auch ihn für tot halten.
Er selbst eilte auf dem schnellsten Weg nach Hause zu seiner Priesterin. Die Anspannung schnürte ihm die Kehle zu. Einerseits konnte er bald endlich seine Familie von der Bedrohung erlösen, die dieser schreckliche, tödliche Albtraum mit sich brachte, aber andererseits wuchs mit jeder Sekunde seine Angst, dass sein Plan höchstwahrscheinlich fehlschlagen würde und er mit seiner gewagten Entscheidung den Verantwortlichen dieses blutigen Komplotts nur den Weg geebnet hatte. Als Luna ihm die Tür öffnete, drückte er sie ganz fest. Ihre Umarmung kam ihm vor wie die eines kleinen Mädchens, und gleichzeitig versprühte sie doch jene unendliche Leidenschaft. Die Sinnlichkeit ihres Körpers und ihrer Bewegungen riss ihn mit sich fort in eine andere Welt, wenn er sie nur berührte. Zunächst fand er es merkwürdig, sie in der Pariser Kleidung zu sehen, die seine Mutter ihr gegeben hatte: Sie trug ein eng anliegendes grünes Mieder mit langen, offenen Ärmeln, das auf Taillenhöhe in einen Rock überging. Aber dann dachte er daran, wie seltsam sie sich erst darin
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